Der Mann, der den Ton angibt
Frankfurter Neue Presse
2/03/2013
Hat den kühlen Blick: Paavo Järvi, hier mit unserem roten Faden im hr-Sendesaal. Foto: Salome Roessler
Der rote Faden zieht sich durch die Stadt. Er ist das Symbol der Frankfurter Neuen Presse – und verbindet Menschen, die Besonderes für Frankfurt leisten. Jeden Samstag stellen wir einen von ihnen vor. Sie entscheiden auch, an wen sie den roten Fadenweitergeben. Folge 10: Paavo Järvi. Er ist seit 2006 Chefdirigent des Sinfonieorchesters des Hessischen Rundfunks. Er bekam den roten Faden von Hammerwerferin Betty Heidler.
Frankfurt.Im Leben des weltweit gefeierten Dirigenten Paavo Järvi gibt es ein konstantes Glück, und wenn er dessen Wesen in einem Satz zusammenfasst, dann flackert es in seinem Pokerblick, unterwandert kurz ein breites Lächeln seine betont lässige Miene. "Mein Vater ist stolz auf mich." Was Paavo Järvi, seit 2006 und noch für diese Saison Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters Frankfurt, nicht sagt, in seiner Stimme aber mitschwingt und ebenso zu diesem Glück gehört: Er ist umgekehrt auch stolz auf seinen Vater.
Ein Talent weitergegeben Neeme Järvi heißt er, ist 75, seit Dekaden Dirigent von Weltrang und hat etwas vollbracht, was nur wenigen in ihrem Beruf passionierten wie genialen Vätern gelingt: Er hat ein Talent weitergegeben und die Freude daran und Zuversicht dafür, es auf die eigene Weise zu formen. Bei Paavo, seinem Ältesten. Bei Kristjan, seinem Jüngsten. Auch er ist Dirigent, auch er genießt hohes Ansehen bei Kritikern und Klassik-Liebhabern. Und bitte, man darf die Schwester nicht vergessen, Flötistin ist sie. "Maarika ist eine großartige Musikerin", sagt Paavo Järvi – und macht schließlich ein Gesicht wie jemand, der für seine Bewunderung nur schwer Worte findet. Die Bewunderung gilt, um das Familienidyll perfekt zu machen, Mutter Liilia: "Was sie im Hintergrund geleistet hat, ist enorm."
Im Vordergrund, was Wunder, stand und steht die Musik, wenn die Järvis zusammenkommen, wenigstens zur Weihnachtszeit in Florida, wo die Eltern seit geraumer Zeit leben. Am 30. Dezember hat Paavo Järvi, in Estland geborener US-Bürger, dort seinen 50. Geburtstag gefeiert. "Dirigent ist eigentlich ein Beruf für die zweite Lebenshälfte", sagt er, "erst dann kommt die nötige Erfahrung hinzu, um ein Werk zu durchdringen." Werke von Bruckner und Mahler zum Beispiel. Deren gewaltige, weil komplexe Sinfonien haben Järvis Engagement beim hr-Sinfonieorchester geprägt, wieder hat er sich von großen Fußstapfen nicht abschrecken lassen, als er sich dafür entschieden hat, die Mahler- und Bruckner-Tradition aus der Ära des in Frankfurt bis heute hymnisch besungenen Israeli Eliahu Inbal neu zu beleben.
An einem Samstag vor wenigen Wochen, als Paavo Järvi im Sendesaal Bruckners Zweite probt, steht vor dem Haupteingang des Funkhauses am Dornbusch ein Orchestermusiker im Ruhestand, der von 1974 bis 1990 unter Inbal gespielt hat, und poltert, auf den aktuellen Chef angesprochen, los: über die Dirigenten der Gegenwart, die nur brillieren wollten, die das Tempo maßlos anzögen, die die Tiefen glätteten und die Höhen aufkratzten. Generationskonflikte, könnte man sagen. Järvi kennt sie zu Genüge. "Es gibt keine Deutungshoheiten mehr, schon gar keine Gewissheiten mehr darüber, wie eine Sinfonie zu klingen hat", sagt er, "wir müssen ein Werk logisch interpretieren, in sich schlüssig, der Zeit angemessen." Die Partitur ist ihm der einzig gültige Kompass, um die Intention des Komponisten zu orten. Altmeister wie Karajan befahlen den Streichern noch fließende Übergänge, wo Komponisten gar keine wollten, suchten in den Noten tiefgründige Subtexte, befeuert vom Furor deutscher Romantik. "Ich glaube nicht, dass wir außer dem Material, das wir in den Händen halten, so viel mehr wissen müssen", sagt Paavo Järvi nüchtern und erzählt wie zum Beweis dafür von einem Erlebnis in Osaka. Dort, in Japan, habe er einst einen so großartigen Bruckner gehört wie selten zuvor und danach.
Er selbst zählt in seiner Generation längst zu den Dirigenten, die den Ton angeben, an denen sich Kollegen messen lassen müssen. Kritik und Publikum sind begeistert von seiner analytischen Schärfe, von der Feinarbeit, mit der er Strukturen bis in die Nuancen freilegt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, einem autarken Orchester, das sich seine Chefdirigenten selbst aussucht und also ihn auserkoren hat, hat er Beethoven neu zum Klingen gebracht, hat er vor allem die Neunte vom Pathos befreit und ihre verborgenen Qualitäten offenbart. Järvi erhielt unter anderem den Grammy, den Klassik-Echo, Dirigent des Jahres war er, 2012 wurde ihm der Hindemith-Preis der Stadt Hanau verliehen. In Frankfurt ist er auf Lebenszeit zum Conductor Laureate ernannt worden. In der kommenden Saison wird er dem fachkundigen hr-Publikum erhalten bleiben, danach wird es ihn schwer vermissen müssen. Wer sein Nachfolger wird, soll übermorgen bekanntgegeben werden. Es ist heutzutage in der klassischen Musik wie im Fußball: Chef-Dirigenten für Epochen sind so selten wie Fußball-Trainer für fünf Spielzeiten.
Beiläufig Weltmann Und Paavo Järvi ist absolut ein Kind dieser Zeit: pragmatisch, rational, unprätentiös, keinerlei Bildungsbürgerattitüde, auf eine beiläufige Weise Weltmann, der so selbstverständlich in ein Flugzeug steigt wie andere in ein Auto, virtuos im Umgang mit der Kommunikationstechnik auch, ein überall Gleichzeitiger sozusagen. Offen für jede Musik ist er ohnehin, hat in jungen Jahren in Rockbands getrommelt und hält alle Grübelei darüber, ob es nun schwieriger sei, mit einem Orchester Schumann einzustudieren oder mit Bandkollegen den perfekten Sound zu kreieren, für müßig. Sein Music Discovery Projekt, bei dem berühmte DJs mit dem hr-Sinfonieorchester auftreten, füllt alle zwölf Monate die Jahrhunderthalle.
"Diese Vielfältigkeit macht mein Leben reich", sagt Paavo Järvi. Jedes Orchester hat spezifische Stärken, in Paris die Streicher, in Frankfurt die Bläser, jeder Klangkörper seinen ganz eigenen Charakter. Ein Fauré wird in Frankfurt nie klingen wie in Paris, ein Schostakowitsch in New York nie wie in St. Petersburg. "Allein wie das Wort Klang in verschiedenen Sprachen klingt", sagt er. Klang, Sound, Swon auf Russisch und dann, ganz lieblich, er hebt die Augenbrauen: Sonorité auf Französisch. Dass er sich immer wieder kulturellen Eigenarten anpassen muss, fordert ihn heraus: Europäische Musiker diskutieren, wollen überzeugt werden, amerikanische haben für Diskussionen keinen Sinn, wollen klare Anweisungen. "Sehr spannend", sagt er.
Neun Monate unterwegs In Cincinnati war er von 2000 bis 2011 Chefdirigent, er leitet neben Frankfurt und Bremen noch das Orchestre de Paris, unlängst hat er beim NHK Symphony Orchestra in Tokio unterschrieben, hinzu kommen die vielen Gastdirigate bei den Wienern, den Berlinern, den New Yorkern und, und, und… Neun Monate im Jahr reist er um die Welt für nahezu 100 Konzerte.
"Die Zeit", schnauft er. Manchmal wacht er morgens auf und weiß nicht, in welcher Stadt er ist. Eine Woche pro Monat, das hat er sich neuerdings fest vorgenommen, will er sich Ruhe gönnen, vor allem für seine beiden Töchter. In Cincinnati im US-Bundesstaat Ohio leben sie, acht und sechs Jahre sind sie alt. "Die kommen langsam in ein Alter, wo sie auch den Papa brauchen", sagt er. Es ist auch umgekehrt so. An den Tagen, wenn er zu Hause in Cincinnati aufwacht und seine Töchter zu ihm ins Bett springen und sich an ihn kuscheln, da würde er sich lebendiger fühlen denn je, ergriffen von einem mächtigen Gefühl dafür, worauf es wirklich ankommt. Mag sein, sagt er, dass er das zu spät merke. Seine Ehe ist in die Brüche gegangen, seine Frau, obwohl selbst Musikerin, habe irgendwann nicht mehr hinnehmen wollen, dass er nicht anders kann, als sich ganz und gar seiner Berufung hinzugeben.
Sie konnten wirklich nicht anders?
"Was sollte ich tun?"
Einfach weniger dirigieren.
"Dann würde mir was fehlen."
Im Dirigentenzimmer des Hessischen Rundfunks sitzt er und erzählt und sinniert ganz ungehetzt. Er hat sich den Rücken freigehalten für dieses Gespräch, "so viel wir brauchen", hat er gesagt. Nun, nach bald zwei Stunden, wird er doch langsam unruhig, die Arbeit ruft. Er will noch im Hotel, nahe der Alten Oper steigt er stets ab, Partituren durcharbeiten, die Bruckner-Probe von eben auf sich wirken lassen – so wie er hofft, dass auch seine Musiker mit ins Wochenende nehmen, was sie vorhin gespielt haben, was sie besprochen haben, was er verlangt, was er gewünscht hat.
Er, der von sich selbst sagt, bald zu jeder Minute an Musik zu denken, an die nächste Probe, an das nächste Konzert, der nur halb im Scherz darüber stöhnt, wie viele Kilogramm Notenmaterial er von Stadt zu Stadt schleppen muss, er muss darauf bauen, dass es auch in anderen immerfort nachschwingt wie in ihm.
Und wenn nicht? Der Verdacht, Star-Dirigenten wie er könnten unmöglich Zeit und Muße finden, jedes Konzert bis zur eigenen Zufriedenheit, bis zur Vollendung einzustudieren, ist ja nicht von der Hand zu weisen. "Doch!", sagt er. Vollendung? Allein dieses Wort. Unzeitgemäß sei es, aus einer Epoche stammend, als Dirigenten noch einer Art Geniewahn unterworfen waren. In bald jeder seiner Einspielungen entdeckt Paavo Järvi Passagen, die er heute anders machen würde, einiges, sagt er, komme ihm mittlerweile sogar falsch vor. In manchen Symphonien sucht er unaufhörlich nach dem richtigen Tempo, der richtigen Phrasierung. Wann immer er den Rat des Vaters einholt, wird ihm bewusst, wie viel er noch zu lernen, oder besser: zu erfahren hat. Manches Werk hat der Vater zwanzigmal häufiger dirigiert als er, und doch ist auch der Vater immer wieder auf der Suche. "Das hört nie auf", sagt Paavo Järvi. Auch darin sei der Vater Vorbild: diese Kunst als unendlichen Prozess zu begreifen – und als solchen zu genießen.
Seit Paavo Järvi denken kann, wollte er genau so sein wie sein Vater. Aus Tallinn, der Hauptstadt Estlands, stammt die Familie. Paavo Järvi ist das baltische Land an der Ostsee bis heute Heimat, wann immer es ihm möglich ist, reist er dorthin. Er liebt seine Stadt, er liebt das Meer (in Frankfurt zieht es ihn immer wieder ans Mainufer), er liebt die nordische Musik. Ein Festival in Tallinn hat er etabliert, Avo Pärt, Erkki-Sven Tüür und viele große Komponisten mehr hat das Land mit seinen nur 1,4 Millionen Einwohnern hervorgebracht.
Sein Stolz darauf ist unüberhörbar, auch sein Stolz auf die noch junge Demokratie, auf die prosperierende Wirtschaft. Einzig die Anfeindungen zwischen Esten und Russen kümmern ihn, der sich von der rauen Herzlichkeit der Nordländer und der Schwermut der Russen gleichermaßen geprägt fühlt. Zurück zu diesen Wurzeln will er irgendwann kehren. "Ich werde meinen Lebensabend in Estland verbringen."
Aufgewachsen ist er in der sowjetischen Teilrepublik, als der Kalte Krieg tobte. Für Politik interessierte er sich wenig, sorgenfrei war die Jugend. Der Vater hatte Schlagzeug gelernt, also lernte es auch Paavo.
Der Vater, Chef des Nationalorchesters von Estland war er, blühte so sehr auf in seiner Arbeit, dass auch Paavo blühen wollte. Der Vater berichtete viel von seinen Reisen, auch Paavo wollte in die Welt hinaus. Ende der 70er Jahre zog es die Järvis fort. Die Familie durfte in die USA auswandern. 18 Jahre war Paavo damals alt. Er studierte in New York, später in Los Angeles bei Leonard Bernstein. Sein Debüt feierte er unweit der Heimat, im norwegischen Trondheim. Er sprang ein für einen Kollegen. Und wie jeder Dirigent am Anfang seiner Karriere stand auch er plötzlich vor der entscheidenden Frage: Kann ich es wirklich? Wird mir das Orchester folgen? Trondheim wurde ein Erfolg. Paavo Järvi konnte es. So wie sein Vater.
Welche Eigenschaften braucht man dazu?
"Schwer zu sagen."
Man hat es, oder man hat es nicht?
"So ist es."
Neulich hat seine ältere Tochter ihn gefragt, ob auch Frauen Dirigenten werden können.
Er nickte. Seither will sie in seine großen Fußstapfen treten. "Sie könnte das", sagt Paavo Järvi, "sie ist wie ich."
http://www.fnp.de/fnp/region/lokales/frankfurt/der-mann-der-den-ton-angibt_rmn01.c.10497278.de.html
2/03/2013
Hat den kühlen Blick: Paavo Järvi, hier mit unserem roten Faden im hr-Sendesaal. Foto: Salome Roessler
Der rote Faden zieht sich durch die Stadt. Er ist das Symbol der Frankfurter Neuen Presse – und verbindet Menschen, die Besonderes für Frankfurt leisten. Jeden Samstag stellen wir einen von ihnen vor. Sie entscheiden auch, an wen sie den roten Fadenweitergeben. Folge 10: Paavo Järvi. Er ist seit 2006 Chefdirigent des Sinfonieorchesters des Hessischen Rundfunks. Er bekam den roten Faden von Hammerwerferin Betty Heidler.
Frankfurt.Im Leben des weltweit gefeierten Dirigenten Paavo Järvi gibt es ein konstantes Glück, und wenn er dessen Wesen in einem Satz zusammenfasst, dann flackert es in seinem Pokerblick, unterwandert kurz ein breites Lächeln seine betont lässige Miene. "Mein Vater ist stolz auf mich." Was Paavo Järvi, seit 2006 und noch für diese Saison Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters Frankfurt, nicht sagt, in seiner Stimme aber mitschwingt und ebenso zu diesem Glück gehört: Er ist umgekehrt auch stolz auf seinen Vater.
Ein Talent weitergegeben Neeme Järvi heißt er, ist 75, seit Dekaden Dirigent von Weltrang und hat etwas vollbracht, was nur wenigen in ihrem Beruf passionierten wie genialen Vätern gelingt: Er hat ein Talent weitergegeben und die Freude daran und Zuversicht dafür, es auf die eigene Weise zu formen. Bei Paavo, seinem Ältesten. Bei Kristjan, seinem Jüngsten. Auch er ist Dirigent, auch er genießt hohes Ansehen bei Kritikern und Klassik-Liebhabern. Und bitte, man darf die Schwester nicht vergessen, Flötistin ist sie. "Maarika ist eine großartige Musikerin", sagt Paavo Järvi – und macht schließlich ein Gesicht wie jemand, der für seine Bewunderung nur schwer Worte findet. Die Bewunderung gilt, um das Familienidyll perfekt zu machen, Mutter Liilia: "Was sie im Hintergrund geleistet hat, ist enorm."
Im Vordergrund, was Wunder, stand und steht die Musik, wenn die Järvis zusammenkommen, wenigstens zur Weihnachtszeit in Florida, wo die Eltern seit geraumer Zeit leben. Am 30. Dezember hat Paavo Järvi, in Estland geborener US-Bürger, dort seinen 50. Geburtstag gefeiert. "Dirigent ist eigentlich ein Beruf für die zweite Lebenshälfte", sagt er, "erst dann kommt die nötige Erfahrung hinzu, um ein Werk zu durchdringen." Werke von Bruckner und Mahler zum Beispiel. Deren gewaltige, weil komplexe Sinfonien haben Järvis Engagement beim hr-Sinfonieorchester geprägt, wieder hat er sich von großen Fußstapfen nicht abschrecken lassen, als er sich dafür entschieden hat, die Mahler- und Bruckner-Tradition aus der Ära des in Frankfurt bis heute hymnisch besungenen Israeli Eliahu Inbal neu zu beleben.
An einem Samstag vor wenigen Wochen, als Paavo Järvi im Sendesaal Bruckners Zweite probt, steht vor dem Haupteingang des Funkhauses am Dornbusch ein Orchestermusiker im Ruhestand, der von 1974 bis 1990 unter Inbal gespielt hat, und poltert, auf den aktuellen Chef angesprochen, los: über die Dirigenten der Gegenwart, die nur brillieren wollten, die das Tempo maßlos anzögen, die die Tiefen glätteten und die Höhen aufkratzten. Generationskonflikte, könnte man sagen. Järvi kennt sie zu Genüge. "Es gibt keine Deutungshoheiten mehr, schon gar keine Gewissheiten mehr darüber, wie eine Sinfonie zu klingen hat", sagt er, "wir müssen ein Werk logisch interpretieren, in sich schlüssig, der Zeit angemessen." Die Partitur ist ihm der einzig gültige Kompass, um die Intention des Komponisten zu orten. Altmeister wie Karajan befahlen den Streichern noch fließende Übergänge, wo Komponisten gar keine wollten, suchten in den Noten tiefgründige Subtexte, befeuert vom Furor deutscher Romantik. "Ich glaube nicht, dass wir außer dem Material, das wir in den Händen halten, so viel mehr wissen müssen", sagt Paavo Järvi nüchtern und erzählt wie zum Beweis dafür von einem Erlebnis in Osaka. Dort, in Japan, habe er einst einen so großartigen Bruckner gehört wie selten zuvor und danach.
Er selbst zählt in seiner Generation längst zu den Dirigenten, die den Ton angeben, an denen sich Kollegen messen lassen müssen. Kritik und Publikum sind begeistert von seiner analytischen Schärfe, von der Feinarbeit, mit der er Strukturen bis in die Nuancen freilegt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, einem autarken Orchester, das sich seine Chefdirigenten selbst aussucht und also ihn auserkoren hat, hat er Beethoven neu zum Klingen gebracht, hat er vor allem die Neunte vom Pathos befreit und ihre verborgenen Qualitäten offenbart. Järvi erhielt unter anderem den Grammy, den Klassik-Echo, Dirigent des Jahres war er, 2012 wurde ihm der Hindemith-Preis der Stadt Hanau verliehen. In Frankfurt ist er auf Lebenszeit zum Conductor Laureate ernannt worden. In der kommenden Saison wird er dem fachkundigen hr-Publikum erhalten bleiben, danach wird es ihn schwer vermissen müssen. Wer sein Nachfolger wird, soll übermorgen bekanntgegeben werden. Es ist heutzutage in der klassischen Musik wie im Fußball: Chef-Dirigenten für Epochen sind so selten wie Fußball-Trainer für fünf Spielzeiten.
Beiläufig Weltmann Und Paavo Järvi ist absolut ein Kind dieser Zeit: pragmatisch, rational, unprätentiös, keinerlei Bildungsbürgerattitüde, auf eine beiläufige Weise Weltmann, der so selbstverständlich in ein Flugzeug steigt wie andere in ein Auto, virtuos im Umgang mit der Kommunikationstechnik auch, ein überall Gleichzeitiger sozusagen. Offen für jede Musik ist er ohnehin, hat in jungen Jahren in Rockbands getrommelt und hält alle Grübelei darüber, ob es nun schwieriger sei, mit einem Orchester Schumann einzustudieren oder mit Bandkollegen den perfekten Sound zu kreieren, für müßig. Sein Music Discovery Projekt, bei dem berühmte DJs mit dem hr-Sinfonieorchester auftreten, füllt alle zwölf Monate die Jahrhunderthalle.
"Diese Vielfältigkeit macht mein Leben reich", sagt Paavo Järvi. Jedes Orchester hat spezifische Stärken, in Paris die Streicher, in Frankfurt die Bläser, jeder Klangkörper seinen ganz eigenen Charakter. Ein Fauré wird in Frankfurt nie klingen wie in Paris, ein Schostakowitsch in New York nie wie in St. Petersburg. "Allein wie das Wort Klang in verschiedenen Sprachen klingt", sagt er. Klang, Sound, Swon auf Russisch und dann, ganz lieblich, er hebt die Augenbrauen: Sonorité auf Französisch. Dass er sich immer wieder kulturellen Eigenarten anpassen muss, fordert ihn heraus: Europäische Musiker diskutieren, wollen überzeugt werden, amerikanische haben für Diskussionen keinen Sinn, wollen klare Anweisungen. "Sehr spannend", sagt er.
Neun Monate unterwegs In Cincinnati war er von 2000 bis 2011 Chefdirigent, er leitet neben Frankfurt und Bremen noch das Orchestre de Paris, unlängst hat er beim NHK Symphony Orchestra in Tokio unterschrieben, hinzu kommen die vielen Gastdirigate bei den Wienern, den Berlinern, den New Yorkern und, und, und… Neun Monate im Jahr reist er um die Welt für nahezu 100 Konzerte.
"Die Zeit", schnauft er. Manchmal wacht er morgens auf und weiß nicht, in welcher Stadt er ist. Eine Woche pro Monat, das hat er sich neuerdings fest vorgenommen, will er sich Ruhe gönnen, vor allem für seine beiden Töchter. In Cincinnati im US-Bundesstaat Ohio leben sie, acht und sechs Jahre sind sie alt. "Die kommen langsam in ein Alter, wo sie auch den Papa brauchen", sagt er. Es ist auch umgekehrt so. An den Tagen, wenn er zu Hause in Cincinnati aufwacht und seine Töchter zu ihm ins Bett springen und sich an ihn kuscheln, da würde er sich lebendiger fühlen denn je, ergriffen von einem mächtigen Gefühl dafür, worauf es wirklich ankommt. Mag sein, sagt er, dass er das zu spät merke. Seine Ehe ist in die Brüche gegangen, seine Frau, obwohl selbst Musikerin, habe irgendwann nicht mehr hinnehmen wollen, dass er nicht anders kann, als sich ganz und gar seiner Berufung hinzugeben.
Sie konnten wirklich nicht anders?
"Was sollte ich tun?"
Einfach weniger dirigieren.
"Dann würde mir was fehlen."
Im Dirigentenzimmer des Hessischen Rundfunks sitzt er und erzählt und sinniert ganz ungehetzt. Er hat sich den Rücken freigehalten für dieses Gespräch, "so viel wir brauchen", hat er gesagt. Nun, nach bald zwei Stunden, wird er doch langsam unruhig, die Arbeit ruft. Er will noch im Hotel, nahe der Alten Oper steigt er stets ab, Partituren durcharbeiten, die Bruckner-Probe von eben auf sich wirken lassen – so wie er hofft, dass auch seine Musiker mit ins Wochenende nehmen, was sie vorhin gespielt haben, was sie besprochen haben, was er verlangt, was er gewünscht hat.
Er, der von sich selbst sagt, bald zu jeder Minute an Musik zu denken, an die nächste Probe, an das nächste Konzert, der nur halb im Scherz darüber stöhnt, wie viele Kilogramm Notenmaterial er von Stadt zu Stadt schleppen muss, er muss darauf bauen, dass es auch in anderen immerfort nachschwingt wie in ihm.
Und wenn nicht? Der Verdacht, Star-Dirigenten wie er könnten unmöglich Zeit und Muße finden, jedes Konzert bis zur eigenen Zufriedenheit, bis zur Vollendung einzustudieren, ist ja nicht von der Hand zu weisen. "Doch!", sagt er. Vollendung? Allein dieses Wort. Unzeitgemäß sei es, aus einer Epoche stammend, als Dirigenten noch einer Art Geniewahn unterworfen waren. In bald jeder seiner Einspielungen entdeckt Paavo Järvi Passagen, die er heute anders machen würde, einiges, sagt er, komme ihm mittlerweile sogar falsch vor. In manchen Symphonien sucht er unaufhörlich nach dem richtigen Tempo, der richtigen Phrasierung. Wann immer er den Rat des Vaters einholt, wird ihm bewusst, wie viel er noch zu lernen, oder besser: zu erfahren hat. Manches Werk hat der Vater zwanzigmal häufiger dirigiert als er, und doch ist auch der Vater immer wieder auf der Suche. "Das hört nie auf", sagt Paavo Järvi. Auch darin sei der Vater Vorbild: diese Kunst als unendlichen Prozess zu begreifen – und als solchen zu genießen.
Seit Paavo Järvi denken kann, wollte er genau so sein wie sein Vater. Aus Tallinn, der Hauptstadt Estlands, stammt die Familie. Paavo Järvi ist das baltische Land an der Ostsee bis heute Heimat, wann immer es ihm möglich ist, reist er dorthin. Er liebt seine Stadt, er liebt das Meer (in Frankfurt zieht es ihn immer wieder ans Mainufer), er liebt die nordische Musik. Ein Festival in Tallinn hat er etabliert, Avo Pärt, Erkki-Sven Tüür und viele große Komponisten mehr hat das Land mit seinen nur 1,4 Millionen Einwohnern hervorgebracht.
Sein Stolz darauf ist unüberhörbar, auch sein Stolz auf die noch junge Demokratie, auf die prosperierende Wirtschaft. Einzig die Anfeindungen zwischen Esten und Russen kümmern ihn, der sich von der rauen Herzlichkeit der Nordländer und der Schwermut der Russen gleichermaßen geprägt fühlt. Zurück zu diesen Wurzeln will er irgendwann kehren. "Ich werde meinen Lebensabend in Estland verbringen."
Aufgewachsen ist er in der sowjetischen Teilrepublik, als der Kalte Krieg tobte. Für Politik interessierte er sich wenig, sorgenfrei war die Jugend. Der Vater hatte Schlagzeug gelernt, also lernte es auch Paavo.
Der Vater, Chef des Nationalorchesters von Estland war er, blühte so sehr auf in seiner Arbeit, dass auch Paavo blühen wollte. Der Vater berichtete viel von seinen Reisen, auch Paavo wollte in die Welt hinaus. Ende der 70er Jahre zog es die Järvis fort. Die Familie durfte in die USA auswandern. 18 Jahre war Paavo damals alt. Er studierte in New York, später in Los Angeles bei Leonard Bernstein. Sein Debüt feierte er unweit der Heimat, im norwegischen Trondheim. Er sprang ein für einen Kollegen. Und wie jeder Dirigent am Anfang seiner Karriere stand auch er plötzlich vor der entscheidenden Frage: Kann ich es wirklich? Wird mir das Orchester folgen? Trondheim wurde ein Erfolg. Paavo Järvi konnte es. So wie sein Vater.
Welche Eigenschaften braucht man dazu?
"Schwer zu sagen."
Man hat es, oder man hat es nicht?
"So ist es."
Neulich hat seine ältere Tochter ihn gefragt, ob auch Frauen Dirigenten werden können.
Er nickte. Seither will sie in seine großen Fußstapfen treten. "Sie könnte das", sagt Paavo Järvi, "sie ist wie ich."
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