Eine starke Persönlichkeit von absoluter Integrität

Feuilleton 

Jan Brachmann

31.03.2023

Eine starke Persönlichkeit von absoluter Integrität

rachmaninow hatte in allen Fragen Klasse, Stil und die hand am Drücker der zukunft / Von Paavo Järvi

mich ärgert es immer wieder, wenn ich über rachmaninow lesen muss, das sei sentimentaler Kitsch, Verherrlichung hollywoods, musik ohne Form, keine große Kunst. es sind tatsächlich hervor- ragende musiker, die so etwas von sich geben. man hat ihnen beigebracht, die Qualität von rachmaninows musik in zweifel zu ziehen. im geheimen hören sie sie ganz gern, aber sie trauen sich nicht, öffentlich zu sagen: ich liebe sie.

Da kann ich nur erwidern: hört diese musik ohne all den Unsinn, der euch von euren Professoren vorab eingetrichtert wurde. Schaut in die Partituren! Lest nach, was dort geschrieben steht, aber nicht so aufgeführt wird! Die Diskrepanz zwischen beidem ist oft erstaunlich.

radu Lupu sagte mir einst: Die wich- tigste entscheidung, die ein musiker trifft, ist die des tempos. Ähnlich wie bei Bruckner besteht auch bei rachmaninow die gefahr, höhepunkte künstlich zu ver- größern, schöne momente sentimental abzumelken und dem augenblick die gesamte Form zu opfern.

man hört dann immer: rachmaninow als Pianist und eugene Ormandy als Diri- gent hätten das genauso gemacht. ihre berühmten aufnahmen liegen ja vor. Dazu muss man wissen, dass damals die Dirigenten Könige waren und die Solis- ten genauso wie die Komponisten sich ihnen unterordneten. Das tat auch rach- maninow. Seine Partituren sagen aber oft das gegenteil von dem, was man auf den aufnahmen hört. Das betrifft auch die Kürzungen: Sie haben einfach damit zu tun, dass es auf den Schallplatten nicht genügend Platz gab.

auf Bildern von rachmaninow begeg- net man einer starken Persönlichkeit mit schönen, gefühlvollen augen. er ist immer bestens gekleidet, hat in allen Fra- gen Klasse und Stil – aber nicht den lei- sesten anflug von eitelkeit. Stattdessen:

absolute integrität. Wenn man diese Bil- der sieht, weiß man, wie seine musik zu spielen ist. ich empfinde sie als überaus klassisch. natürlich gibt es die Schicht romantischen empfindens darüber. ent- deckt man aber, wie alles gefügt ist, stellt man fest: überall Klarheit, nichts Unge- fähres, keine gekünstelten Übergänge.

zugleich ist rachmaninows musik sehr russisch. Wenn ich sage „russisch“, so muss ich das erklären: es gibt russische Komponisten, die weit weniger russisch

Villa Senar in Hertenstein

sind als er. tschaikowsky zum Beispiel ist viel kosmopolitischer. Und natürlich fin- det man bei Strawinsky wie bei Prokofjew viel „russisches“. aber bei rachmani- now ist es anders: er ist russisch in einer nicht-exotischen Weise; er will kein west- liches Publikum mit seinem russentum beeindrucken; er ist russisch nicht für andere. er ist russisch aus sich selbst und für sich selbst, in einer sehr schlichten, ehrlichen Weise, die ihre Wurzeln in der melodik der alten Folklore hat und in der

Foto Priska Ketterer/Denkmalpflege Luzern

ich die essenz des russischen höre: des- sen tiefe, dessen traurigkeit, dessen poe- tische Schönheit.

rachmaninows musik folgt dem Prin- zip der melodischen evolution, die ganz organisch vor sich geht, wie bei einer Schlingpflanze. Das muss man zu gestal- ten wissen, mit allen Verlagerungen von metrischen und melodischen Schwer- punkten; man darf es nicht ins Schema klassischer Periodik pressen. Dann ent- steht der eindruck banaler Sequenzie- rung. Die musik wird zu Kitsch. Wenn man aber der Organik melodischer zel- len folgt, erlebt man endloses Wachstum, Weite, Unvorhersagbarkeit.

rachmaninows musik, besonders aus der Spätphase in amerika, zeigt, dass er kein traditionalist und „letzter romanti- ker“ war. Sie ist in harmonik und Faktur ein reflex der moderne. Der einfluss des Jazz ist mit händen zu greifen. Wir wis- sen, dass rachmaninow in seiner new Yorker zeit fast jeden abend nach har- lem fuhr und in die Jazzclubs ging.

ich bin rachmaninow nie begegnet. Deshalb ist es schwer, über seine Persön- lichkeit zu sprechen. Den Fotos nach zu urteilen, hatte er festen grund unter sich und gerade deshalb im exil heimweh. gleichzeitig investierte er viel geld in die entwicklung von automotoren, Lokomo- tiven und hubschraubern. Dieser mann hat nicht nur zurückgeschaut. er hatte die hand auf dem Drücker der zukunft. Objektiv über etwas zu sprechen, was man wirklich mag, ist schwer. man tendiert dazu, sich ein idol zu erschaffen. Und so geht es mir hier: ich liebe rachmaninow.

Paavo Järvi leitet als Dirigent gemeinsam mit Gianandrea Noseda die Konzerte zum Rachma- ninow-Jubiläum der Philharmonia und des Tonhalle-Orchesters Zürich.



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