Estnisches Erzählen in modernem Gewand
Jüri Reinvere ist Komponist, Lyriker und Essayist. Er wurde 1971 im estnischen Tallinn geboren wurde und lebt nunmehr seit fast zwei Jahrzehnten in Deutschland. Aufgewachsen im damals noch sowjetisch-russisch besetzten Estland unterrichtete ihn Lepo Sumera, bevor es Reinvere nach Polen und Finnland zum Studium zog. So konnte er aus beiden Welten für sich Nutzen ziehen, da in Estland nach Inspiration, Metaphysik und Spiritualität gefragt wurde, dagegen in Finnland nach Technik, Handwerk und Material. Mit der Verbindung der großen Fragen der menschlichen Existenz wie auch den exakten Proportionen seiner Werke und der Auslotung klanglicher Finesse gehört er zu den instrumentalen Erzählern der Zeit. Die drei Werke des Albums sind als Aufträge aus der Partnerschaft mit Paavo Järvi hervorgegangen.
« Und müde vom Glück, fingen sie an zu tanzen” ähnelt in der Form ein wenig La Mer von Debussy, doch hat dieses kraftvoll berauschende Stück einen völlig anderen Charakter. Es beschreibt opulent verschiedene Stadien der Ermüdung und der Sinnleere inmitten großer Überfülle. Wie von Paavo Järvi gewünscht, entfesselt sich hier die Energie des Tanzes.
Das Flöten-Doppelkonzert knüpft biographisch an. Reinvere lernte Querflöte, um bei der Sowjetarmee in die Militärmusik statt in den Dienst an der Waffe gehen zu können. Mit den technischen Möglichkeiten des Instruments vertraut, spickt er die Soli wie die ausgedehnten Kadenzen mit avantgardistischen Spieltechniken einschließlich Geräuschen. Das Stück atmet Frische und lässt einen partnerschaftlichen Wettbewerb zwischen den Solisten hören, der orchestral zart umspielt wird.
‘Das Narrenschiff’, inspiriert durch den gleichnamigen Roman von Sebastian Brant, kurz vor der Reformation geschrieben, mündet in den zentralen Satz « Die Welt will getäuscht werden, also lasst sie uns täuschen“ und ist damit aktueller denn je. Die Musik erklingt als unheimliche Vision, in der vordergründige Geschäftigkeit nicht über bleierne Ruhe hinweg täuscht oder ausgestrahlte Ruhe durch hintergründige Hektik untergraben wird. Zerstreuung bietet die Gelegenheit, sich von Gefahren oder Entscheidungen ablenken zu lassen.
Möchte man sich der Musik von Reinvere ästhetisch nähern, fällt die klare Modernität, die an das geografisch nicht so weit entfernte Finnland und seine Musik denken lässt einerseits auf. Daneben kann man Reinvere einen Hang zur Romantik nicht absprechen. So verbindet er in seiner Musik avancierte Klangerzeugung mit klassischen Erzählstrukturen. Das ergibt ein eigenständiges Formdenken, das je nach Inspirationsquelle unterschiedlich ausgestaltet ist.
Das Estonian Festival Orchestra hat mit Paavo Järvi nicht nur einen Spiritus Rektor, der das Ensemble formt und immer zu Höchstleistungen anspornt, sondern auch einen nimmermüden Unterstützer der Musik seiner Heimat. Mit Jüri Reinvere zeigen sie einen Komponisten mit einer ausdrucksvollen eigenen musikalischen Sprache. In seinen Werken bringen sie auch immer das in Estland so wichtige Singen zum Klingen. Mit leidenschaftlich vorgebrachter reifer Technik und ausgeprägtem Gespür für die Klangfarben der Stücke wecken sie die Neugier auch auf andere Werke von Reinvere oder weitere Entdeckungen aus der Region.
Die Flötistinnen Maarika Järvi und Monika Mattiesen hatten auch schon die Uraufführung gespielt und sind deshalb mit der Materie bestens vertraut. So können sie ihre Soli im besten Einvernehmen miteinander und nicht gegeneinander präsentieren und damit dem Stück ein ebenso heiteres wie zielstrebiges Gepräge geben, vom Orchester fein umsponnen.
Jüri Reinvere is a composer, lyricist and essayist. He was born in Tallinn, Estonia, in 1971 and has now lived in Germany for almost two decades. Growing up in Estonia, which was still under Soviet-Russian occupation at the time, he was taught by Lepo Sumera before moving to Poland and Finland to study. This allowed him to benefit from both worlds, as in Estonia he was interested in inspiration, metaphysics and spirituality, whereas in Finland he was interested in technology, craftsmanship and materials. With his combination of the great questions of human existence as well as the exact proportions of his works and the exploration of tonal finesse, he is one of the instrumental storytellers of our time. The three works on the album were commissioned as a result of the partnership with Paavo Järvi.
“And Tired from Happiness, They Started to Dance” is somewhat similar in form to La Mer by Debussy, but this powerfully intoxicating piece has a completely different character. It opulently describes various stages of fatigue and emptiness of meaning in the midst of great abundance. As desired by Paavo Järvi, the energy of the dance is unleashed here.
The flute double concerto has a biographical connection. Reinvere learned to play the flute so that he could join the Soviet army and play military music instead of serving in the armed forces. Familiar with the technical possibilities of the instrument, he peppered the solos and the extended cadenzas with avant-garde playing techniques, including noises. The piece breathes freshness and reveals a competitive partnership between the soloists, which is delicately orchestrated.
‘The Ship of Fools’, inspired by the novel of the same name by Sebastian Brant, written shortly before the Reformation, culminates in the central sentence “The world wants to be deceived, so let us deceive it” and is therefore more relevant than ever. The music resounds as an eerie vision in which superficial busyness does not disguise leaden tranquility, or in which radiated calm is undermined by underlying hustle and bustle. Distraction offers the opportunity to be distracted from dangers or decisions.
If one wishes to approach Reinvere’s music aesthetically, one is struck by its clear modernity, which brings to mind Finland and its music, which is not so far away geographically. On the other hand, Reinvere cannot be denied a penchant for romanticism. In his music, he combines advanced sound production with classical narrative structures. This results in an independent approach to form, which is shaped differently depending on the source of inspiration.
In Paavo Järvi, the Estonian Festival Orchestra not only has a spiritus rector who shapes the ensemble and always spurs it on to top performances, but also a tireless supporter of the music of his homeland. In Jüri Reinvere, they present a composer with his own expressive musical language. In his works, they always bring out the singing that is so important in Estonia. With their passionately performed, mature technique and keen sense of the tonal colors of the pieces, they also arouse curiosity about other works by Reinvere or other discoveries from the region.
The flautists Maarika Järvi and Monika Mattiesen had already played the world premiere and are therefore very familiar with the material. This allows them to present their solos in perfect harmony with each other and not against each other, giving the piece a cheerful and determined character, finely spun around by the orchestra.
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