Freiheitsdrang

Opernnetz.de
Christoph Broermann
27.09.2013
FIDELIO
(Ludwig van Beethoven)
27. September 2013
(Premiere) 
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor
Unter dem Motto Verwandlungen findet das letzte Beethovenfest unter der Leitung von Ilona Schmiel statt. Und Beethovens einzige Oper Fidelio passt perfekt in dieses Schema. Leonore „verwandelt“ sich in den Mann Fidelio, um ihren Mann Florestan zu suchen, der in einem Gefängnis des Gouverneurs Don Pizarro unschuldig gefangen gehalten wird. Seit 2005 hat es keinen Fidelio mehr beim Beethovenfest gegeben. Dafür muss Entschädigung her, und so kann Schmiel für die zwei Aufführungen keinen geringeren als Paavo Järvi gewinnen, der mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen schon in der Ouvertüre beginnt, die Mauern des Gefängnisses zu erstürmen. Angekündigt ist die Oper als halbszenische Aufführung und zu den letzten Takten marschieren die Sänger auf, um sich auf den Stühlen vor dem Orchester aufzustellen. Doch der der letzte Ton ist kaum verklungen und die Hände heben sich zum Applaus, da werden plötzlich Rufe im Zuschauerraum laut. Irritierte Blicke finden einen Mann, der von hinten nach vorne läuft, dabei sichtlich erregt von Geld und Befehlen redet und mit einem Papierstapel herumfuchtelt. Ein Blick ins Programmheft erklärt, dass dieser Mann Ulrich Tukur ist, der für die Rezitation verantwortlich ist. Tukur spricht Texte eines gealterten Rocco, der auf die dramatischen Tage im Gefängnis zurückblickt, als er seine Tochter einem vermeintlichen Mann namens Fidelio versprochen hat und sich noch vor den Pizarros gefürchtet hat.
Leah Hausman, die für das szenische Arrangement verantwortlich ist, setzt Tukur dazu ein, die konzertante Ordnung aufzubrechen. Die Stühle werden zur Seite geschafft, einige auch mal wieder nach vorne geholt, wenn die Szene sie braucht. Marcelline bindet sich eine Schürze um ihr Abendkleid, Leonore braucht nicht mehr als ein Jackett, um sich in Fidelio zu verwandeln. Pizarro klammert sich an seine Reitgerte, eine Geste des Drohens und des verzweifelten Festhaltens gleichermaßen. Tukur macht die Angst und Verbitterung über seinen früheren Arbeitgeber deutlich, spricht im Flüsterton über ihn. In diese angespannte Stille klingelt ein Handy im Publikum – offensichtlich muss die Beethovenhalle ihre Erinnerung, das Handy auszustellen, noch deutlicher machen. Der Schauspieler hält inne, nach dem dritten Klingelton sagt er ganz erschrocken: „Da ruft er an!“
Tukur interagiert mit den anderen Personen. Sie bewegen sich über die breite Rampe der Bühne hinweg, was dem ganzen auch akustische Bühnentiefe gibt. Hausmans Umsetzung besticht durch Lebendigkeit, die nie aufgesetzt wirkt, mit kleinen wie prägnanten Gesten, die die Rollen lebendig machen. Wenn sich der Männerchor nach und nach von seinen Stühlen erhebt, um den Freigang der Gefangenen zu symbolisieren, braucht es keinen Bühnenzauber jeder Art. Zum Finale stürmen die Chorsänger die Chorpodeste, Männer und Frauen fallen sich in die Arme.
Die Solisten spielen, ohne wirklich zu spielen, ihre Rollen mit großem Einsatz. Zum Zentrum wird die Figur des Rocco – nicht nur dank Ulrich Tukur, sondern auch weil der stimmliche herausragende Dmitri Ivashchenko die Ambivalenz der Figur unterstreicht. Sein prägnanter Bass pendelt zwischen gemütlicher Vaterfigur und gefälligem, ängstlichen Untertan. Detlef Roth singt einen Minister mit weißer Weste. Bei Julian Prégardien hat Jaquino nicht nur die ängstlich-komischen Seiten eines Verlierers, sondern auch wohlklingend selbstbewusste Züge. Mojca Erdmann symbolisiert in diesem Umfeld mit ihrem schlanken Sopran die lyrische, naive Träumerei vom Familienglück, die jedes Ensemble wie ein Silberstreif am Horizont durchzieht. Evgeny Nikitin ist als Tyrann Pizarro pure, süffisante Bosheit, die er mit eisiger Schärfe vokal in Szene setzt. Der großartige Burkhard Fritz hadert als Florestan mit einem schönen, strahlendem Ton, der beim Happy End noch mal schöner klingt. Über die Schwierigkeiten der großen Arie Gott, welch Dunkel hier singt er fast mühelos hinweg, nicht aber über deren Ausdruck. Cécile Perrin übernimmt für die erkrankte Emily Magee kurzfristig die Partie der Leonore und wirft sich mit Leidenschaft in die Rolle der selbstlos liebenden Frau. In den dramatischen Szenen und im Jubelchor demonstriert sie ihre Stimme in aller Pracht und kompensiert manche Ungenauigkeit in den Piani.
Der von Michael Alber einstudierte Deutsche Kammerchor macht nichts weniger, als sich die Seele aus dem Leib zu singen – aber das höchst kultiviert. Ebenso an der Grenze zu Superlativen musiziert die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen. Allein die mit vollem Köpereinsatz musizierenden Streicher stehen für die Entschlossenheit des Orchesters, diesen Fidelio mitzuprägen. Paavo Järvi nutzt für seine kraftvolle, mustergültige Interpretation auch die individuelle Klasse der Musiker aus. Mit wuchtigen Gesten peitscht er das Orchester zu spannenden Momenten, die man im besten Kinofilm nicht besser zu sehen bekommt. Dazwischen setzt er immer wieder Zäsuren der Ruhe und Hoffnung.
Der Atem der Revolution, wo sich Menschen gegen Unrecht und Missachtung der Menschwürde auflehnen – in dieser Aufführung ist er spürbar – etwa wenn von draußen der Trompetenstoß hereinweht, der den Tyrannen unschädlich macht. Doch es ist wie mit Pfingsten und dem Heiligen Geist. Nicht alle im Publikum lassen sich von ihm erwischen. Der Nachbar vollzieht den Schlaf des gerechten Träumers, und in der Reihe davor zeigen sich junge Erwachsene fremdsprachige Nachrichten auf dem Smartphone. Doch der starke Schlussapplaus zeigt, dass sich der Großteil von dieser berührenden, nachdenklich machenden Aufführung hat gefangen nehmen lassen.
Wer sich selbst einen Eindruck davon machen möchte: Radio WDR 3 sendet eine Aufzeichnung der Aufführung am 20. Oktober.
http://www.opernnetz.de/seiten/rezensionen/bon_fid_bro_130927.htm

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