Schostakowitsch mit Bodyguard
Morgenpost.de
Julia Kaiser
15.04.2015
Wie der estnische Dirigent Paavo Järvi mit drei Kantaten zu Ehren Stalins seine Landsleute provozierte
http://www.morgenpost.de/printarchiv/kultur/article139563866/Schostakowitsch-mit-Bodyguard.html
Julia Kaiser
15.04.2015
Wie der estnische Dirigent Paavo Järvi mit drei Kantaten zu Ehren Stalins seine Landsleute provozierte
Einen Bodyguard, "dreimal so breit wie ich
selbst", engagierte Paavo Järvi, um ein Konzert daheim in Tallinn geben
zu können. Der Dirigent, 52, widmete sich der Musik von Dmitri
Schostakowitsch, die der sowjetische Komponist einst Stalin zu Gefallen
geschrieben hatte. Haarsträubend propagandistisch – und heute aktueller
denn je, wie Järvi im Vorwort der Mitte Mai bei Erato erscheinenden
CD-Aufnahme schreibt. Järvi, der am Pult der Berliner Philharmoniker vom
14. bis 16. Mai Schostakowitschs "1. Symphonie" präsentieren wird,
hatte sich mit dem Tallinn-Projekt im April 2012 bewusst in die
kulturelle Frontlinie zwischen Estland und Russland begeben.
Bei Järvis Konzert in Tallinn hatten
die Zeitungen die Ironie des Komponisten übernommen. "Paavo Järvi
huldigt Stalin", titelten sie, provozierend. Daher der Bodyguard, nur
zur Vorsicht: "Sie wissen nicht, wessen Gefühle Sie verletzen", so
Järvi: "Schostakowitsch schrieb die Kantaten 1964, zwei Jahre, nachdem
ich geboren wurde. Historisch gesehen gewissermaßen gestern. Wer nahe
der Grenze zu Russland wohnt, hamstert Vorräte im Keller und ist
jederzeit auf einen Einmarsch gefasst." Jedem Konzertbesucher sei aber
die Ironie des Projektes klar gewesen, nicht nur den Bildungsbürgern,
sagt Järvi, und vergleicht es mit Pop-Art in Russland, die Jesus, Micky
Maus und Lenin Hand in Hand abbildet.
Eine
Gänsehaut sei ihm über den Rücken gelaufen, als er Schostakowitschs
drei Kantaten vor ausverkauftem Saal dirigiert habe. "Ich habe mich
geschämt, über die Schulter zu schauen, denn ich hasste jedes Wort, das
ich da dirigierte. 'Stalin – unser Land wird geführt von einem Genie'
und so weiter. Die Hälfte der Bevölkerung unseres Landes ist in
Konzentrationslagern von Stalin umgebracht worden!"
Paavo
Järvi, der in Tallinn, damals Hauptstadt der Estnischen Sozialistischen
Sowjetrepublik, geboren wurde, war 1980 mit seinen Eltern in die USA
emigriert. Nach der Unabhängigkeitserklärung Estlands von Russland
kehrten sie zurück. Heute fördern Paavo Järvi und sein Vater, der
Dirigent Neeme Järvi, mit ihrem Sommerfestival im südestnischen Pärnu
und der Järvi Academy für junge Künstler den Musikernachwuchs ihres
Heimatlandes.
Mit dem
Schostakowitsch-Projekt habe er, zum ersten Mal, dass dies ein Künstler
überhaupt tat, die drei Chorwerke "Über unserer Heimat scheint die
Sonne", "Das Lied von den Wäldern" und "Die Hinrichtung des Stefan
Rasin" dort aufgeführt. Der Komponist schrieb sie, nachdem er mit seiner
"4. Symphonie" beim Regime in Ungnade gefallen war. "Die Stücke könnten
vordergründig kaum lauter und pompöser sein, mit Posaunen und
Knabenchören. Aber es gibt da diese Doppelbödigkeit. Schostakowitsch
muss beim Schreiben vor Lachen vom Stuhl gefallen sein." Ein
lebensgefährlicher Humor. Die Entscheidung des Regimes fiel zu seinen
Gunsten aus. Schostakowitsch kam nicht nur mit dem Leben davon, diese
demonstrativ propagandistischen Werke ermöglichten ihm, seiner Berufung
weiter nachzugehen. Angst vor der Willkür aber muss er bis zu seinem
Lebensende verspürt haben.
Auf die
Frage, ob ein solches Konzert nicht eine Art Über-den-Zaun-spucken sei,
verweist Järvi auf Schostakowitschs künstlerische Bedeutsamkeit. Sie sei
in allen ehemaligen sowjetischen Ländern unumstritten, in Estland wie
anderswo. "Deshalb konnte ich das Konzert überhaupt spielen. Hätte ich
ein Programm mit Musik von Schostakowitschs Zeitgenossen Dmitri
Kabalewski geplant, wäre es verboten worden." Ob Kabalewski in derselben
Situation wie Schostakowitsch war, wissen wir heute nicht. Der "schmale
Grat zwischen richtig und falsch", auf dem auch ein Künstler
balancieren muss, ist an Schostakowitschs Werk plakativer abzubilden.
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