Antifaschistische Sinfonie
jungewelt.de
Kai Köhler
14.11.2016
Eine exemplarische Aufführung: Ein Beethoven-Schostakowitsch-Konzert der Staatskapelle Berlin
Für den Westen eine nebulöse Sache: Der Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. In historischen Uniformen paradieren russische Soldaten zum Gedenken in Moskau am 7. November 2016
Foto: REUTERS/Maxim Shemetov
Dmitri Schostakowitschs 7. Sinfonie, mit dem Untertitel »An die Stadt Leningrad«, wird in Deutschland seltener aufgeführt als viele andere seiner Werke. Im Westen gab es sie vor 1989 beinahe nie zu hören. Den Grund dafür muss man nicht erst lange suchen: Das im Herbst 1941 komponierte Werk hat den Zweiten Weltkrieg zum Thema, und dies aus der Sicht der sowjetischen Verteidiger und späteren Sieger. Daran wurde und wird hierzulande nicht gerne erinnert. Als einziger Ausweg bietet sich der Rückgriff auf einen 1979 unter dem Titel »Zeugenaussage« veröffentlichten Text an, der Schostakowitschs in den Westen geschmuggelte Memoiren enthalten soll. Glaubt man diesem Buch – und dem Programmheft des jüngsten Konzerts der Staatskapelle Berlin –, so ist jenes Leningrad Thema, dass Stalin bereits vor dem Krieg vernichtet habe; Hitler habe nur den Schlusspunkt gesetzt.
Dergleichen Ausflüchte, die mehr als eine Million Verhungerte während der faschistischen Blockade der Stadt 1941 bis 1944 zu einem nebensächlichen Nachklapp erklären, sollen natürlich heute das Werk der herrschenden Ideologie ausliefern. Natürlich sind sie – wie die »Zeugenaussage« zum größten Teil überhaupt – Unsinn. So abstrakt Musik auch ist, in der Sinfonie geht es unüberhörbar um Kämpfe. Aber gegen einen totalitären Stalin? Man müsste sich also entscheiden: Wenn nicht auch Stalins Gegner gekämpft haben, so bezeichnet die Musik, wie man jahrzehntelang meinte, tatsächlich den Widerstand gegen den Faschismus.
Was immer vor 1941 geschah, letzteres dürfte zutreffen. Schostakowitsch, damals 35 Jahre alt, meldete sich im Sommer 1941 zweimal als Kriegsfreiwilliger zur Roten Armee und wurde abgewiesen: Seine musikalische Tätigkeit war wichtiger. Als er im Oktober aus dem bereits belagerten Leningrad ausgeflogen wurde, waren drei Sätze der 7. Sinfonie fertig. Das Finale beendete er im Dezember, und nach der Uraufführung im März 1942 wurde die Partitur per Mikrofilm ausgeflogen. Die US-amerikanische Erstaufführung im Juli leitete auch dort eine ganze Reihe von Konzerten ein. Das Werk wurde zum Symbol der alliierten Verbundenheit.
Tatsächlich hat Schostakowitsch diese Sinfonie, mehr als seine vierzehn anderen, auf einfache Fassbarkeit angelegt. Es war ihm in der bedrohten Lage noch wichtiger als sonst, das Publikum unmittelbar zu erreichen. Mehr als die Schwesterwerke, deren Anspruch unmittelbar deutlich wird, ist darum diese Sinfonie auf eine Interpretation angewiesen, die über die instrumentalen Effekte hinaus hörbar macht, wie bewusst das Werk gearbeitet ist. Die Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Paavo Järvi wurde diesem Anspruch Anfang vergangener Woche gerecht.
Die Sinfonie weist sehr breit angelegte Steigerungen auf, die ein genau kalkuliertes Anwachsen der Lautstärke über Minuten hinweg verlangen. Dies gelang ebenso wie das Aufzeigen von melodischen und rhythmischen Verbindungen, die den Aufbau des immerhin gut 75 Minuten dauernden Werks absichern. Die Staatskapelle, die im deutsch-romantischen Repertoire einen dunklen, vollen, dabei doch klaren Klang zu geben weiß, konnte auf die kalten, bei reichlichem Schlagzeugeinsatz hell-metallisch klingenden Kriegspassagen der Leningrader Sinfonie umschalten. Bei aller Klarheit vermittelten die Musiker doch stets den emotionalen Gestus des Werks. Die Aufführung war geeignet, die erste Hälfte des Konzerts vergessen zu machen: eine vom Orchester klanglich pappige, insgesamt zerdehnte Version von Beethovens 3. Klavierkonzert. Der Solist Radu Lupu spürte in seinem Part äußerst sensibel allen Details nach, aus denen sich dann doch kein Ganzes ergab. Seine Klanggebung war durchgehend weich, was – nachdem schon der allzulangsam genommene zweite Satz zerfallen war – das Rondofinale in seinen derb-humoristischen Passagen gar nicht traf.
Nach der Pause jedoch, bei der Schostakowitsch-Sinfonie, war das sehr viel größere Orchester sehr viel leichter durchhörbar. Järvi wusste Klangfarben abzuschatten und punktuell die Aggressivität zu steigern, indem er Nebenstimmen hervorhob, die sonst leicht verdeckt werden. Die Komposition besitzt die Unmittelbarkeit von Filmmusik, wie sie Schostakowitsch überzeugend zu schreiben wusste, ist dabei aber von einer großen strukturellen Konsequenz, wie die Gattung Sinfonie sie erfordert.
Darin zeigt sich indessen auch eine Schwierigkeit für die Hörer. Das Werk hat die Qualität absoluter Musik, also einer Musik, die für sich selbst stehen kann. Gleichzeitig verweist es eindeutig auf eine Auseinandersetzung außerhalb der Musik – ohne dass Liedzitate wie in den Revolutionssinfonien 11 und 12 für programmatische Eindeutigkeit sorgen würden. Es stellt sich also die Wahl: Soll man allein Gestus und Stimmung als musikalische Vermittlung des sowjetischen Widerstands hören? Oder haben einzelne Melodien eine konkrete Bedeutung? Das Eröffnungsthema, das für lange Zeit verschwindet, doch am Ende triumphal wiederkehrt, könnte für die friedliche Heimat und dann für den erhofften Sieg stehen. Doch was ist mit dem Marschmotiv, das sich im ersten Satz über mehr als zehn Minuten aus zaghaften Anfängen zu größter Härte steigert? Nach sowjetischer Lesart stand es für die Brutalität der aufmarschierenden Faschisten, was zu der Kritik führte, dass Schostakowitsch keine positive Gegenmacht dargestellt habe. Zitate des Rhythmus in den folgenden Sätzen deuten aber an, dass schon die Voraussetzung falsch ist und der Marsch die Beharrlichkeit der Roten Armee bezeichnet.
Dies sind die Widersprüche, die sich aus einer sowohl programmatischen als auch absoluten Sinfonik ergeben; und dass man sie heutzutage im Konzert erleben kann, verdankt sich – als weiterer Widerspruch – der gegenwärtigen Verfälschung des Gemeinten. Nicht auszuschließen ist aber, dass gerade eine so hochrangige Interpretation wie die der Staatskapelle Berlin unter Järvi doch zu Erkenntnissen führt.
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