Er ist einfach der Größte

FAZ
Jan Brachmann
11.08.2020



Zehn Jahre mit den neun Symphonien: Der estnische Dirigent Paavo Järvi hat durch die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen einen neuen Zugang zu einem Komponisten gefunden, über den er von Kindheit an schon alles zu wissen schien.

Warum machte Furtwängler hier eine Verzögerung, George Szell aber nicht? Was wäre, wenn dieser Teil eigentlich auf Halbe geschlagen werden müsste statt der üblichen vier Viertel? Über solche Dinge unterhielten wir uns gewöhnlich am Esstisch in dem Haus, in dem ich aufwuchs.

Seit meiner frühesten Jugend sprachen wir mit meinem Vater über interpretatorische Dinge. Er ließ uns verschiedene Aufnahmen von Beethoven-Symphonien hören und die Dirigenten raten. Ich war vertraut mit den klassischen Interpretationen von Beethovens Symphonien, und jeder von uns zu Hause hatte seine Lieblingsinterpretation. Meine war die von Bruno Walter, besonders der zweite Satz der zweiten Symphonie. Über die Musik Beethovens und anderer Komponisten zu diskutieren war einfach die Art, wie wir langsam groß wurden. Und so mag man mir vergeben, wenn ich ungefähr im Alter von zehn Jahren gar keine Zweifel mehr hatte, alles über Beethoven zu wissen.

Später, nachdem wir in die Vereinigten Staaten umgezogen waren, wurde dann die neue, historisch informierte Bewegung immer prominenter. Und das war etwas, das mich ziemlich stark ansprach. Als ich zum ersten Mal Roger Norringtons Aufnahmen hörte, dachte ich, irgendetwas stimmt mit meiner Stereoanlage nicht. Die musste kaputt sein. Alles klang zu schnell und einfach „falsch“ im Vergleich zu dem, was ich gewohnt war. Andererseits gab es etwas unfehlbar Bezwingendes, Logisches und Aufregendes in dem, was ich da hörte. Zum Beispiel die zwei Eröffnungsakkorde der dritten Symphonie: wie zwei Ohrfeigen, ganz anders als die wagnerianische Schwere der klassischen Aufnahmen. Oder der zweite Satz der zweiten Symphonie, der – anders als Bruno Walters langsame und ausdrucksvolle Version, nahe an einem Adagio von Brahms oder Bruckner – in Norringtons Einspielung beträchtlich schneller, leichter und liedhafter klang, so wie er tatsächlich auch geschrieben worden war.

Mich hat das von dem Zeitpunkt an sehr beeinflusst, und ich begann, mir andere Interpretationen der historischen Gurus anzusehen. Während meiner Studienzeit am Curtis Institute of Music durchlief ich einen Entscheidungsprozess, was ich von dieser neuen Sichtweise auf Beethoven halten sollte. Aber nach dem Beginn meiner professionellen Karriere und besonders nachdem ich eingeladen worden war, die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen zu dirigieren, widerfuhr mir geradezu ein Segen mit der Möglichkeit, die Werke dieses musikalischen Giganten in ihrer Tiefe erkunden zu können. Nachdem wir eine Beethoven-Symphonie zusammen gespielt hatten, war mir klar, dass ich den perfekten Partner gefunden hatte, um diesen Komponisten zu erforschen.

Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen ist ein Orchester mit einer einzigartigen, fast anti-orchestralen Arbeitsweise. Das wechselseitige Geben und Nehmen zwischen Musikern und Dirigent, worin jeder interpretatorische Einsichten beiträgt, befähigte uns, tiefer und tiefer zu graben. Zehn Jahre lang haben wir fast nur Beethoven zusammen aufgeführt, bevor wir sämtliche Symphonien aufgenommen haben. Wir gaben zahlreiche Konzerte und gingen mit dem kompletten Zyklus auf mehrere Tourneen, die ihm gewidmet waren. Und der ganze Prozess des Experimentierens mit diesem Orchester machte mir klar, wie tief man in die Welt eines Komponisten eintauchen kann. Wir haben nicht nur sorgfältig geprobt; wir zogen Spezialisten und Forscher zu Rate, um verschiedene Notenausgaben zu prüfen und die Literatur über die richtigen Instrumente jener Zeit zu sichten, über die Ausrichtung des Orchesters, die Stimmtonhöhe und vieles mehr – alles nur, um zu prüfen, welchen Teil der Tradition es zu bewahren oder zu verwerfen galt. Wir stritten endlos über den Einsatz von Vibrato und – am allerwichtigsten – über Beethovens Metronom-Angaben. Das Stimmenmaterial, das wir benutzten, war brandneu und sauber, ohne Eintragungen von früheren Aufführungen.

Der Vergleich von Aufnahmen anderer Leute verhilft einem tatsächlich nur zu einem oberflächlichen Verständnis der Absichten eines Komponisten. Nur die ausdauernde Untersuchung jedes Punktes, jeder Linie, jeder Artikulationsanweisung mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, die ausgedehnten Experimente, die endlose Wiederholung der Aufführungen brachte uns langsam dahin, zu verstehen, was Beethoven mit seiner Notation tatsächlich gemeint habe.

Irgendwann begriff ich, wie viel man tatsächlich wissen müsse, um einen Komponisten wirklich in all seiner Tiefe zu erfassen. Und die Interpretation als solche wird sich nur entwickeln und klären nach einem ausführlichen Prozess von Experiment und Ausschluss. Deshalb war ich sehr glücklich, einen Partner wie die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen gefunden zu haben und die Möglichkeit, solch eine außergewöhnliche Menge an Zeit und Arbeit in die Beschäftigung mit Beethovens Musik zu stecken.

Die Investition war die Sache wert – denn er ist der Größte von allen. Diese zehn Jahre waren ein Prozess der Feinabstimmung für die Einspielung von Beethovens sämtlichen Symphonien. Ich war gesegnet mit einem Luxus, der mir nicht für viele andere Komponisten zur Verfügung steht. Und es war ein Luxus, mit etwas gesegnet zu sein, was so wenigen Menschen widerfährt. Am Ende dieses Prozesses wurde Beethoven für mich zu einem völlig anderen Komponisten als der, mit dem ich aufgewachsen war. Und meine Entdeckungsreise geht immer noch weiter.

Aus dem Amerikanischen von Jan Brachmann.

Paavo Järvi, Dirigent, hat mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen Beethovens Symphonien auf CD aufgenommen (RCA/Sony).

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