Ein einmaliges Juwel

Tonhalle Extra
Von Isabella Seemann
01.09.2021

Vom Glück, einen Konzertsaal eröffnen zu dürfen: Chefdirigent Paavo Järvi und Tonhalle-Intendantin Ilona Schmiel. Bilder: Joseph Kakshouri


Frau Schmiel, Herr Järvi, nächs- tes Wochenende können die Zür- cher an den Eröffnungstagen die Tonhalle besichtigen und am 15. September eröffnen Sie sie nach vierjährigem Umbau offiziell mit Einweihungskonzerten. Was kön- nen Sie dem Publikum jetzt schon versprechen?

Ilona Schmiel: Das Publikum wird eine wundervolle Grosse Tonhalle erleben, die mit ihrer farbigen Schönheit zum «Wow-Effekt» et- was Erhabenes ausstrahlt, aber den Besucher auch mit einer war- men Atmosphäre umfängt. Zum «Wow-Effekt» tragen aber ebenso die grosszügigen Foyers, die Ter- rasse und die Gastronomie mit

Blick auf den See bei. Der Besuch in der Tonhalle bietet ein Gesamt- erlebnis. Und für uns bietet sich mit dem Umbau eine Chance, auf der internationalen Landkarte wieder ein Hotspot zu werden. Musika- lisch gehört das Tonhalle-Orches- ter Zürich zur Weltspitze, aber erst jetzt haben wir für unsere Klang- qualität auch den richtigen Ort mit den richtigen Bedingungen.

Paavo Järvi: Das Glück, einen neuen Konzertsaal eröffnen zu dürfen, ist sehr selten. Einen his- torischen Saal nach einer Reno- vation wiederzueröffnen, die für Orchester und Publikum vieles exponentiell verbesserte, ist noch seltener. Es wird also ein histori- scher Moment sein, wenn die Stadt ihre Tonhalle wiedererhält. Sie soll ein zweites Wohnzimmer für alle Bewohner werden, jeder soll sich hier wohlfühlen. Und was ich defi- nitiv versprechen kann ist, dass das Tonhalle-Orchester Zürich wieder das absolut Beste geben wird.

Welche Bedeutung hat die Ton- halle für Sie persönlich?

Ilona Schmiel: Schon bevor ich als Intendantin nach Zürich kam, hatte ich etliche Konzerte hier be- sucht und war stets berührt von der speziellen Atmosphäre und der warmen Ausstrahlung. Und das ist für mich das Wichtigste:

Die Tonhalle ist ein Saal, der einen nicht kaltlässt. Als Auswärtige kann ich versichern: Die Ton- halle war für mich immer einer der besten Säle Europas – und jetzt ist sie es auch weltweit. Sie steht bezüglich Klangqualität in einer Reihe mit den anderen Kon- zertsälen, die nach dem Schuh- schachtel-Prinzip gebaut sind, wie Concertgebouw in Amsterdam, die Boston Symphony Hall und der Musikvereinssaal in Wien.

Paavo Järvi: Der Konzertsaal ist ein Juwel, und es gibt nur wenige Säle, die es mit ihm aufnehmen können. Ich erinnere mich, als ich das erste Mal hierhin kam, noch als Gastdirigent, um mit dem Ton- halle-Orchester die 3. Symphonie von Schumann zu spielen, und von Beginn weg eine menschliche und musikalische Verbindung spürte. Ich dachte mir: Sollten sie mich je fragen, fest nach Zürich zu kom- men, würde ich annehmen. Und dann haben sie mich tatsächlich gefragt.


Welche Rolle spielt der Konzert- saal für einen Chefdirigenten auf der Bühne?

Paavo Järvi: Es gibt mehrere sehr wichtige Bedingungen, um Erfolg als Musikdirektor zu haben, und die Akustik eines Saals ist eine da- von. Was dem Geiger die Geige, ist dem Orchester der Saal: Der Saal ist das Instrument des ganzen Or- chesters. Und wir müssen lernen, die versteckten Vorteile und Nach- teile in den Wänden, im Boden, in der Decke auszunutzen, respektive auszubügeln. Der Saal gehört zum Ton des Orchesters. Alle grossen Orchester der Welt haben einen grossartigen Konzertsaal, zu dem sie eine enge Beziehung haben. Or- chester hören sich nicht in jedem Konzertsaal gleich an. Am besten hören wir uns immer im eigenen Saal an, weil wir Zeit haben zur Feinabstimmung. Ein guter Kon- zertsaal lässt das Orchester noch besser erscheinen, als es ohnehin schon ist. Eine gute Konzerthalle schmeichelt dem Orchester.

Löst der neu renovierte Konzert- saal auch neue programmatische Impulse aus?

Ilona Schmiel: Tatsächlich ha- ben wir einige Zäsuren in der Geschichte dieses Hauses sinn- bildlich in das Programm aufge- nommen. 1895 wurde die Tonhalle eröffnet, deshalb eröffnen wir mit Mahlers Sinfonie Nr. 3 d-Moll, die in jener Zeit komponiert wurde. 1939 entstand zur Landessausstel- lung der Anbau mit der Kongress- halle, aus dieser Zeit werden wir ebenfalls Werke vorstellen. 1985 verschwand beim Umbau wegen Platzbedarf die Seesicht und in jenem Jahr hatte das dreisätzige Orchesterwerk «Harmonielehre» vom amerikanischen Komponis- ten und Dirigenten John Adams seine Uraufführung. Diese Saison ist er als Creative Chair zu Gast beim Tonhalle-Orchester Zürich. Für die anstehende Einweihung der neuen Orgel haben wir eben- falls bei einem Komponisten ein neues Werk in Auftrag gegeben. Es entsteht neue Musik, und es entsteht sogar neue Literatur mit einem Auftragswerk an die Zür- cher Schriftstellerin und Journa- listin Zora del Buono.


Zu reden gaben in den letzten Jahren die Umbaukosten, sie lie- fen aus dem Ruder. «Wenn schon, denn schon» – so könnte das Motto bei der Renovation gelau- tet haben. Ist die Tonhalle ein eli- täres Projekt?

Ilona Schmiel: Elitär sind wir nur im Qualitätsanspruch für das, was auf der Bühne präsentiert wird, aber nicht im Zugang zum Haus. Jeder Franken, der in dieses Gebäude investiert wurde, ist gut investier- tes Geld. Und alle haben etwas da- von: Sämtliche Künstlerinnen und Künstler und die Bevölkerung. Die Tonhalle ist ein Haus für alle. Bei der Abstimmung zur Instandset- zung erreichte sie überwältigende 76 Prozent Zustimmung. Und all jene, die dafür votiert haben, haben es verdient, dass sie das Bestmög- liche bekommen. Und das ist die Umsetzung dessen.

Paavo Järvi: Es handelt sich um ein unsinniges politisches Manöver, alles was teuer ist, als elitär zu be- zeichnen. Was gut gemacht ist, kos- tet. Alles, was wir heute schätzen, Kirchen, Kathedralen, Konzertsäle, schauen Sie sich die Altstadt an, war nicht billig. Es ist ein trauriges Zeichen unserer Zeit, dass Qualität mit Elitarismus verbunden wird. Niemand komponiert Musik, schreibt Bücher, malt Bilder oder verwirklichte einmalige Ideen, um elitär zu sein. Man möchte einfach gut sein oder besser. Das Haus ist für alle offen, wir wollen so viele Menschen hier wie möglich aus allen sozialen Schichten.

Wie steht es um die Begeisterung für klassische Musik in unserer Gesellschaft?

Paavo Järvi: Ich glaube, klassische Musik ist mehr als Musik. Klassi- sche Musik ist die Geschichte der Menschheit in Noten geschrieben. Klassische Musik ist keine Hinter- grundmusik, während man staub- saugt, sie ist der Soundtrack der menschlichen Erfahrung und Ent- wicklung. Natürlich hören heute mehr Leute Rap als klassische Mu- sik. Aber das akkurateste Urteil über Qualität fällt die Zeit. Die Musik, die wir hier in der Tonhalle spielen, ist teils über 300 Jahre alt. Hingegen erlebe ich schon heute, wie gewisse Künstler innert weniger Jahre auf- streben und wieder untergehen, wahrscheinlich, weil ihre Musik nicht wirklich gut war. Sie war nur kommerziell. Und von künst- lich aufgeblähter Musik haben wir sehr viel. Das ist nicht der Fall bei Mozart, bei Brahms, bei Mahler, bei Bach, bei Strawinsky. Und wir sind die Hüter dieses Erbes. Unsere Mis- sion ist, die Qualität von klassischer


Musik mehr Leuten nahezubringen. Denn schliesslich macht es die Leute reicher, wenn sie sich in klassische Musik verlieben.

Was muss die Tonhalle leisten, um das Publikum zu gewinnen und zu halten?

Ilona Schmiel: Das Bedürfnis nach Live-Konzerten ist gerade jetzt rie- sig. Wir haben es alle gespürt, wie sinnstiftend ein Live-Konzert ist. Für diese Saison mache ich mir keine Sorge. Die Nachfrage, unseren Saal zu sehen und Paavo Järvi zu erleben, ist enorm. Generell ist es unser wichtigstes Anliegen, die Insti- tution in die Zukunft zu tragen. Eine wichtige Voraussetzung dafür sind beste Grundbedingungen, denn nur wenn es in so hoher Qualität für alle möglich ist, klassische Musik zu er- leben, dann machen wir auch Lust auf mehr. Das Publikum soll süchtig werden nach diesen Erlebnissen. Paavo Järvi ist nicht nur ein Bot- schafter für die klassische Musik, sondern auch ein Mensch, der durch seine Begeisterung und durch seine Erfahrung das Publikum gewinnen kann. Darüber hinaus versuchen wir auch, junge Künstler immer in höchster Qualität in diverse Konzertreihen zu integrieren, und nutzen deren Passion, um zu ihren


Zielgruppen zu sprechen. Es gibt Formate von Tonhalle Late bis zum Einstieg für Vier- und Fünfjährige, die zum ersten Mal in Kontakt mit klassischen Instrumenten kommen. Um für alle attraktiv zu sein, braucht es aber auch eine Preispolitik, die dies spiegelt. Es benötigt viel Phan- tasie und eine Vision, wie wir alle erreichen können.

Sie studierten unter anderem Ge- sang. Singen Sie, wenn Sie eine Pause vom Intendantinnen-Da- sein brauchen?

Ilona Schmiel: Nein, zur Erholung gehe ich am liebsten auf ein Segel- boot, auf dem Zürichsee oder auf dem Mittelmeer.

Und Sie, Herr Järvi, wo erholen Sie sich in Zürich?

Paavo Järvi: Ich entspanne mich am besten, wenn ich mit dem Or- chester probe. Was ich hier erlebe, erlebt man als Dirigent nur ein- mal im Leben, wenn überhaupt. Hier bin ich am glücklichsten. Mit diesem Konzertsaal haben wir die Chance, zu den Weltbesten zu wer- den. Das Orchester spielt bereits in dieser Liga, aber in Kombination mit dem Saal und dem Neuanfang haben wir die Möglichkeit, in die Weltklasse vorzustossen.

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