Wiedereröffnung der Tonhalle Zürich: Was mir dieser prächtige Raum erzählt

Neue Zürcher Zeitung 
Christian Wildhagen 
17.09.2021 
Photo credit: Gaetan Bally








Die Geschichte ist keine Einbahnstrasse, die notgedrungen vom Alten, vermeintlich Überlebten geradewegs zu etwas Neuem führt. Manchmal bewegt sich Geschichte auch rückwärts oder im Kreis, und im besten Fall kehrt man auf einem höheren Niveau der Erkenntnis und der ästhetischen Erfahrung zum einstigen Ausgangspunkt zurück. Dies ist in wenigen Worten die Geschichte der Tonhalle Zürich, die am Mittwoch nach vierjähriger Renovation glanzvoll wiedereröffnet wurde. Es war für das Publikum die Rückkehr in einen immer schon für seine Akustik und für seine Atmosphäre hochgeschätzten Raum, sozusagen die «gute Stube» der Stadt, in der denn auch Wesentliches nach wie vor bekannt und vertraut anmutet. Es war aber auch die Erstbegegnung mit einem Saal, in dem sich während der vergangenen vier Jahre vieles dauerhaft verändert hat, und zwar im Detail wie im grösseren Massstab. Nirgendwo sonst in Zürich greifen nämlich Alt und Neu fortan so stark, aber eben auch harmonisch ineinander wie in dem nun wiedergewonnenen Prachtbau von 1895. 


 Licht, Helligkeit, Farbe 

Als das Konzerthaus der Theater- und Opernhaus-Architekten Hermann Helmer und Ferdinand Fellner seinerzeit eröffnet wurde, nannte man es eine Zeitlang die «Neue Tonhalle», nicht zuletzt, um es von dem Vorgängerbau am Bellevue abzuheben, der seit 1867 als Konzertsaal gedient hatte. Als das Tonhalle-Orchester während der Renovation zwischen September 2017 und Anfang Juli 2021 in seinem originellen Interim, einer adretten Holzbox, auf dem Maag-Areal spielte, verwandelte der Volksmund den Bau am See kurzerhand in die «alte» oder die «historische» Tonhalle, um sie wiederum deutlich von der Ausweichspielstätte im Industriequartier mit ihrem postindustriellen Charme zu unterscheiden. 


 Neu und Alt wechseln also, je nach Perspektive, und dieses zentrale Leitmotiv begleitet uns auf Schritt und Tritt auch beim Gang durch den renovierten Bau. Wenn man das Konzerthaus betritt – nach wie vor über den seitlich gelegenen Eingang an der Claridenstrasse, künftig hoffentlich auch über die beiden neuen Freitreppen vom Guisan-Quai aus –, ist der erste Eindruck: Licht, Helligkeit, Farbe. Das Grau, der Staub, die muffige Patina, die sich im Verlauf von Jahrzehnten in den Ecken, auf den Wänden und Gesimsen, aber merklich auch auf der gesamten Anmutung des Hauses abgelagert hatten, sind einer Strahlkraft gewichen, die den Besucher förmlich einnimmt. 

 Einschneidend verändert hat sich in der Eingangshalle dagegen kaum etwas. Viele Funktionsbereiche – etwa die Garderoben und die Kassenschalter – befinden sich noch genau dort, wo man sie in Erinnerung hat. Und man muss schon genau hinschauen, um zu erkennen, wie fein und kenntnisreich hier an zahllosen Einzelheiten gearbeitet wurde. Um alle Verbesserungen wahrzunehmen, wären regelrechte Vorher-nachher-Vergleiche anhand von Fotografien nötig. Ins Auge springen die nach historischen Vorbildern rekonstruierten Kugelleuchten – sie sind ein Gedicht. 



 Der Eindruck einer subtilen Wiederherstellung des Urzustands, die sich angenehm darauf beschränkt, die originalen oder im Sinne des Originals rekonstruierten Materialien neu und frisch zur Geltung zu bringen – dieser positive Eindruck setzt sich im Foyer des Konzertsaals fort. Während unten in der Eingangshalle die Stilelemente des Historismus durch den einheitlich hellen Anstrich ein wenig neutralisiert wurden, ist hier oben die Entstehungszeit des Foyers im Jahr 1939 bewusst, aber immer noch unaufdringlich ausgestellt.

 Das ist der Kern des nicht neu, aber modern gedachten Konzepts hinter der Renovation, das sich auf die Eck- und Wendepunkte in der Geschichte der Tonhalle und des benachbarten Kongresshauses fokussiert. Das Jahr 1939 bedeutet dabei fraglos den grössten Einschnitt: Mit dem Abriss des ursprünglichen Foyer- und Gartensaals von 1895, des sogenannten Trocadéro nach Pariser Vorbild, und der Errichtung des Kongresshauses inklusive eines neuen Tonhalle-Foyers entstand jener Mix – man darf es auch Stilbruch nennen –, der das gesamte Ensemble bis heute prägt. Anders als früher wird er jedoch nun nicht mehr kaschiert. 

 Die Verbindung zwischen den baugeschichtlich und stilistisch so unterschiedlichen Bereichen erfolgt viel subtiler als bei der missglückten, jetzt weitgehend zurückgebauten Renovation von 1985 – nämlich in erster Linie durch die Farbgebung.
Diese ist eine Glanzleistung im Wortsinne. Denn sie schafft mit Gold-, Erd- und Pastelltönen, die offenkundig aus Bildern und Schmuckelementen des historischen Konzertsaals von 1895 abgeleitet wurden, eine visuelle Brücke. Diese lässt einen den Zeitsprung von mehr als vier Jahrzehnten und den damit verbundenen Epochenwechsel fast vergessen, den man beim Übertritt vom Foyer in den Konzertsaal vollzieht. Dort angekommen, umfängt den Besuchern ein Gefühl von Wärme, im übertragenen Sinne – der Saal heisst einen willkommen wie ein guter alter Bekannter, der aber aufs Feinste neu eingekleidet und ausstaffiert wurde. Die Renovation bringt den Überreichtum an Verzierungen und Schmuckelementen – die wie beim Wiener Musikverein und anderen historischen Sälen einen entscheidenden Anteil an der exzellenten Akustik haben – so stark zur Geltung wie wohl zuletzt bei der Eröffnung 1895, als der Saal allerdings noch reichhaltiger verziert war. Dennoch empfindet man die historistische Pracht nicht als überladen – wohl auch deshalb, weil es wiederum ein optisches Band gibt, das dem Raumeindruck einen visuellen Rahmen verleiht. Es sind die zur Mitte des 20. Jahrhunderts gräulich übermalten, nun in ihre ursprüngliche Farbigkeit zurückversetzen Säulen, die das Auge sanft, aber nachdrücklich zur Bühne lenken. Dort fällt der Blick als Erstes auf die neue Orgel der Firma Kuhn in Männedorf, die sich farblich geringfügig abhebt. Sie soll am 23. September eingeweiht und danach in mehreren Veranstaltungen vorgestellt werden. 

Das neue Instrument, übrigens von einer privaten Stiftung bezahlt, ragt deutlich weniger aus der
vorgegebenen Nische hinter dem Orchesterpodium hervor als sein umstrittener Vorgänger, die Kleuker-Steinmeyer-Orgel von 1988. Dies war wiederum die Voraussetzung für etliche Massnahmen, die auf eine Verbesserung der Saalakustik zielten. Klang-Säuberungen Wie aber kann man etwas verbessern, das schon kurz nach der Eröffnung als Musterbeispiel einer romantischen Konzertsaal-Akustik galt? Karlheinz Müller und Michael Wahl sind Experten für genau diese sonore, bassgrundierte Mischklang-Ästhetik, die sich erheblich vom analytisch-kristallinen Sound-Design moderner Konzerthäuser, etwa der Elbphilharmonie, unterscheidet. Wie bei der Architektur der Tonhalle setzte das Erneuerungskonzept bei der Akustik denn auch keineswegs auf eine radikale Umgestaltung, vielmehr auf eine Auffrischung des Altbewährten mit dem Wissen und den Techniken unserer Zeit. 

 Zentral ging es auch hier um eine Art Säuberung, namentlich der hohen Frequenzen, die durch Staubablagerungen über die Jahre matt geworden waren. Zudem macht ein neuer Holzfussboden den Kardinalfehler einer früheren Renovation rückgängig, bei der man die Bühne samt Podien vom übrigen Zuschauerbereich abgetrennt, also auch akustisch entkoppelt hatte. Beim Eröffnungskonzert des Tonhalle-Orchesters unter seinem Musikdirektor Paavo Järvi spürt man nun tatsächlich, dass sich die Schwingungen der für den Saal so charakteristischen tiefen Frequenzen durch den Boden im Raum ausbreiten. Järvi und sein Orchester haben für die musikalische Probe aufs Exempel das denkbar geeignete Stück gewählt, nämlich Gustav Mahlers 3. Sinfonie. 


Sie entstand in der Zeit um 1895 und war 1904 obendrein die allererste Mahler-Sinfonie, die in der Tonhalle erklang. Der sechssätzige Koloss, eine Kosmogonie in Tönen, versammelt 162 Mitwirkende auf dem neuen, an diesem Abend maximal erweiterten Podium; neben dem gross besetzten Orchester finden darauf die Altistin Wiebke Lehmkuhl, die Damen der Zürcher Sing-Akademie und die Zürcher Sängerknaben mit einigem Gedränge Platz. Der Saal bewältigt diese Massen akustisch gerade noch (die neue, nahezu unhörbare Klimaanlage ab dem vierten Satz leider nicht mehr). Aufschlussreicher als das Austesten von Grenzen in Tutti-Passagen sind die instrumentalen Feinheiten in Järvis stringenter Interpretation. Die ersten Violinen, in der Tonhalle Maag arg geplagt, blühen wieder, die weiterhin direkt neben ihnen platzierten Celli mehr denn je. Die Holzbläser mischen sich, vom Parkett aus gehört, ideal mit den Streichern, bleiben aber als eigene Farbe erkennbar. Beim Blech gibt es selbst im Fortissimo jetzt mehr Raum um den Klang, der stets weich, aber ohne Verschwimmen im Nachhall abgefedert wird. 

Die zahlreichen Soli der Konzertmeisterin Julia Becker treten wunderbar plastisch hervor – man darf sich auf die ersten Solistenkonzerte freuen. Gegenüber früher wirkt der Saal grundsätzlich etwas trockener abgestimmt, aber auch deutlich trennschärfer, zumal beim Schlagwerk. Ein einzelner Klang demonstriert den erreichten Zuwachs an Farben und Obertönen exemplarisch: Auf dem Höhepunkt des Schlusssatzes, den Mahler zeitweilig mit dem programmatischen Titel «Was mir die Liebe erzählt» überschrieben hatte, ertönt ein Unisono-Schlag von drei Becken im perfekten Einklang. Da schimmert förmlich die Luft, und der Saal strahlt einen Augenblick lang noch ein bisschen heller. 







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