Zürich, Tonhalle: BENEFIZKONZERT UKRAINE, 23.03.2022
Oper Aktuell
Kaspar Sannemann
23.03.2022
Seit über vier Wochen ist die ukrainische Bevölkerung einem unvorstellbaren, menschenverachtenden Angriffs- und Zerstörungskrieg seitens eines totalitären Aggressors ausgesetzt. Mit verlogenen Argumenten greift Russlands Diktator das Nachbarland an, ohne Kriegserklärung, mit unverhohlenem Bruch des Völkerrechts. Dabei nimmt er humanitäre Kollateralschäden in Kauf, wie wir sie in Europa seit 80 Jahren nicht mehr erlebt haben. Wir fühlen uns hier in Westeuropa angesichts der Bedrohung, welche durch eine Eskalation auf die Stufe eines nuklearen, chemischen oder biologischen Flächenbrandes droht, nahezu hilflos. Zumal beide Konfliktparteien nicht von ihren Standpunkten abrücken können oder wollen (auch in der Ukraine gibt es leider nicht nur politisch korrekt gesinnte Gutmenschen, da ist in der Entwicklung hin zu einer transparenten, demokratischen Gesellschaft noch viel zu tun), ist die Hoffnung auf erfolgreiche Verhandlungen gleich null. Das Wenige, das uns einfachen, friedliebenden Menschen zu tun bleibt, ist Solidarität mit der gepeinigten ukrainischen Bevölkerung zu zeigen, vor Ort und im Flüchtlingsbereich zu helfen.
Verschiedene Kulturinstitutionen veranstalten zur Zeit Benefizkonzerte zugunsten der Menschen in der Ukraine - so gestern Abend auch die Tonhalle Gesellschaft Zürich. Das Tonhalle-Orchester Zürich spielte unter seinem Musikdirektor Paavo Järvi und mit dem Solisten Leonidas Kavakos die oben erwähnten Werke.Mit der so wunderbar zart dahinfliessenden Abendserenade des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov wurde der Abend eröffnet. Was für eine zutiefst bewegende Musik: Zugleich Wehmut evozierend und Trost spendend. Järvi verstand es hervorragend, den weichen Kantilenen Raum zum Blühen zu geben, die Streicher intonierten mit unvergleichlicher Wärme. Das Verklingen der Phrasen und die Zelebrierung der Stille waren tief bewegend - genau wie im letzten Stück des Konzerts, FRATRES von Arvo Pärt. Auch hier waren nur die phantastischen Streicher des Tonhalle -Orchesters Zürich im Einsatz, unterstützt durch ganz dezentes Schlagwerk. Pärt suchte die Ruhe, die Kontemplation. Wir alle sollten als "Brüder" (und selbstredend auch als Schwestern) durch diese Welt schreiten, wie es Paavo Järvi in seiner kurzen Ansprache ans Publikum ebenfalls propagierte.
Zwischen diesen beiden tief bewegenden Stücken gab es auch Heiteres, Beschwingtes und gar Mitreissendes zu hören. So die eigenwillige, hochspannende Interpretation des Mendelssohnschen Violinkonzerts in e-Moll durch den Stargeiger Leonidas Kavakos. Was für ein Teufelskerl. Das war weit jenseits von weichgespülter Romantik. Zügig, selbstbewusst, dabei wunderbar klar und mit sauber abgesetzten Tönen akzentuierend attackierte er die Exposition des Kopfsatzes,, empfindsam wurde das Seitenthema herausgearbeitet, halsbrecherisch und atemberaubend klangen die präzisen Triller in der Kadenz. Spannend zu sehen war seine intensive Kontaktpflege mit der Konzertmeisterin Julia Becker, das führte zu einem geradezu musikantischen Zusammenspiel zwischen Solist und Orchester. Herrlich erfrischend und so gar nicht biedermeierlich. Auch im attaca gespielten zweiten Satz zeigte sich das immense Vertrauen, das zwischen Kavakos und Järvi zu herrschen scheint: Man gewährte sich gegenseitig Freiheiten im vollen Bewusstsein, dass alles gut kommen werde. Volle Attacke auch im Finale: Der Bogen tanzte nur so über die Saiten von Kavakos' Stradivari, mit fantastischer Präzision, nichts wurde "verschmiert". Kraft und Souplesse dominierten. Mit der so wunderbar schlicht und rein gespielten Zugabe (einer Partita von Bach?) hatte man Gelegenheit, wieder etwas zur Ruhe zu kommen, nach der aufregenden Interpretation des Violinkonzerts von Mendelssohn-Bartholdy.
Last but by far not least erklangen auch drei grandiose Kompositionen (allesamt Erstaufführungen in Zürich) von John Adams, dessen musikalischer Kosmos einen gewichtigen Schwerpunkt in der laufenden Saison der Tonhalle bildet. In TROMBA LONTANA wurden die beiden Trompetenspieler Philipp Litzler und Heinz Saurer prominent links und rechts der Orgel positioniert. Es ist keine wirkliche Fanfare, eher ein teils mystisch, teils rhythmisch akzentuiert ablaufendes Amalgam von klanglichen Eindrücken, alles ruhig, nie über den mezzoforte Bereich hinausgehend. Mehr zur Sache geht es in MY FATHER KNEW CHARLES IVES. Hier hat Adams in einem überaus kurzweiligen, dreisätzigen Stück Jugenderinnerungen verarbeitet. Im ersten Satz (Concord) hört man nach einer stimmungsvollen Einleitung die Marching Band durchs Städtchen ziehen. Das ist zwar lärmig, aber auch ungeheuer spassig. Im zweiten Satz (The Lake) wird's eher unheimlich. Das Blubbern und die komponierten Geräusche der Natur verbreiten mehr Angst als Wohlbefinden, man wartet quasi auf das Monster, das aus den Fluten aufsteigt. Es kommt aber nicht, stattdessen bauen sich Gebirgstürme (The Mountain) aus Glocken und Trompeten und Streichershichtungen bis zur Schmerzgrenze auf. Es gibt nur wenig Entspannung in diesem letzten Satz. Ständig wird man überrollt von kulminerenden Wogen, bevor alles wieder in Mystik versinkt. Auch hier bewundert man die Fähigkeit Paavo Järvis, den Klängen Raum und Zeit geben zu können. Der anwesende Komponist konnte bereits hier den begeisterten Applaus des Publikums entgegennehmen und erneut nach dem rasanten Stück I STILL DANCE, dem ein unentrinnbarer Sog innewohnt und das zu Beginn mir bekanntes thematisches Material enthält, das ich aber in dem Moment nicht zuordnen konnte. Vielleicht kann mir ja jemand helfen.
Nach FRATRES gelang es dem Dirigenten, die Stille unglaublich lange zu halten, so dass jeder für sich der Unfassbarkeit des Geschehens gedenken konnte, welches sich nur ein paar hundert Kilometer vor unseren Grenzen abspielt. Es ist alles so unglaublich traurig - dieser Abend war wichtig, aber eben auch nur ein Tropfen auf den heissen Stein unserer Hilflosigkeit.
Übrigens: Der 84jährige Komponist Valentin Silvestrov lebte während der ersten beiden Wochen des russischen Angriffs noch in Kiew. Er konnte nun über Polen nach Deutschland fliehen.
Comments