Keine Abkürzungen; Gespräch mit Paavo Järvi, dem zukünftigen RSO-Chefdirigenten
With special thanks to Carola Finkel:
Keine Abkürzungen; Gespräch mit Paavo Järvi, dem zukünftigen RSO-Chefdirigenten
Interview von Hans-Jürgen Linke
Frankfurter Rundschau, 11.05.2005
Hans-Jürgen Linke: Frankfurter Rundschau: Herr Järvi, Sie haben früher zu der Rockband von Erkki Sven Tüür gehört, der heute als der bedeutendste estnische Komponist der Generation nach Arvo Pärt gilt. Was für ein Instrument haben Sie da gespielt?
Paavo Järvi: Schlagzeug. Ich habe auch Perkussion studiert. Die Band hieß "In Spe", Erkki Sven Tüür hat Gitarre und vor allem Flöte gespielt. Ich habe aber nicht nur bei ihm, sondern auch in eigenen Bands gespielt, sehr gern übrigens auch in einer Heavy-Metal-Band.
Hans-Jürgen Linke: Haben Sie auch Stücke für die Bands geschrieben?
Paavo Järvi: Nein, das haben andere gemacht.
Hans-Jürgen Linke: Ihr jüngerer Bruder Kristjan ist Gründer des avantgardistischen Absolute Ensemble und Dirigent der Wiener Tonkünstler, Ihr Vater Neeme ist ein international renommierter Dirigent - mussten Sie lange über Ihre Berufswahl nachdenken?
Paavo Järvi: Ich hatte eigentlich keine andere Wahl als Dirigent zu werden. Das ist bei uns sozusagen eine Familienangelegenheit. Aber Musik hat nicht nur diese private Dimension, sondern auch prinzipiell eine politische. Ich komme aus dem kleinen Estland, das Jahrzehnte lang sehr stark fremdbestimmt war. Für uns Esten war Musik immer auch ein Mittel, um sichtbar zu werden.
Hans-Jürgen Linke: In Ihrer Repertoire-Politik für das hr Sinfonieorchester wollen Sie einen dreifachen Schwerpunkt setzen: auf nordische Komponisten, auf mitteleuropäische Romantik und auf zeitgenössische Musik. Entspricht das auch Ihren persönlichen Schwerpunktsetzungen?
Paavo Järvi: Keineswegs, das sind nur die Themen, auf die ich mich hier konzentrieren will und soll. Ich werde natürlich auch die Haydn-Tradition des Orchesters fortsetzen. Was die nordischen Komponisten anbelangt, habe ich da natürlich eine bestimmte Vorliebe, andererseits aber gibt es hier vieles, was in Mitteleuropa und auch sonst international kaum im Konzertbetrieb repräsentiert ist. Stenhammar, Tubin, das sind Komponisten, von denen man hier zu Lande oft kaum mehr als die Namen kennt, Carl Nielsen ist für mich einer der großen Sinfoniker. Da gibt es viel zu tun. Aber mein stilistischer Einzugsbereich ist viel größer als es sich in diesen drei Themen ausdrücken lässt. Mit dem Cincinnati Symphony Orchestra zum Beispiel spiele ich schwerpunktmäßig das internationale Standard-Repertoire. In den USA ist es ja sehr schwierig, mit zeitgenössischer Musik Erfolg zu haben, man muss sie vorsichtig einsetzen. Mit der Deutschen Kammerphilharmonie dagegen spiele ich ein ganz anderes Repertoire.
Hans-Jürgen Linke: Sie werden also mit dem hr Sinfonieorchester die Tradition Hugh Wolffs fortsetzen, der hier ein polyvalentes Orchester geschaffen hat?
Paavo Järvi: Das ist genau das, was mich an meiner hiesigen Aufgabe reizt.
Hans-Jürgen Linke: Sie arbeiten zur Zeit in verantwortlichen Positionen bei drei verschiedenen Orchestern in drei Nationen, das hr Sinfonieorchester ist Ihr viertes. Kommen Sie sich da nicht selbst ins Gehege?
Paavo Järvi: Ich bin ein sehr loyaler Mensch und tue immer dort, wo ich gerade arbeite, mein Bestes. Die Vielfalt meiner Aufgaben stört mich nicht, sie kommt eher der Vielfalt meiner Interessen entgegen. Schließlich ist es so, dass ich bei allen vier Orchestern sehr unterschiedliche Aufgaben wahrnehme. In Cincinnati muss ich alles Mögliche machen, die Struktur des Orchesters und seines Apparates ist dort ganz anders, als man es aus Mitteleuropa kennt. Ich bin dort nicht nur mit der Programmplanung befasst, sondern auch sehr stark mit Management-Aufgaben und Fundraising-Aktivitäten. Beim Estnischen Nationalorchester in Tallinn habe ich eher eine künstlerisch beratende Funktion. Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen ist ein selbstverwaltetes Kammerorchester, was wiederum eine völlig andere Arbeitsweise zur Folge hat.
Hans-Jürgen Linke: In Frankfurt werden Sie für den Hessischen Rundfunk arbeiten, eine große Institution, in der es eine hoch differenzierte Arbeitsteilung gibt, die den Rahmen für Ihre Aufgaben definiert.
Paavo Järvi: Genau. Die organisatorische Potenz einer solchen Institution empfinde ich als sehr entlastend. Meine Aufgabe soll nicht zuletzt darin bestehen, das internationale Renommee des Orchesters zu steigern.
Hans-Jürgen Linke: Lässt sich das realisieren, ohne Einschränkungen in der regionalen Arbeit in Kauf zu nehmen?
Paavo Järvi: Sicher. Die internationale Arbeit kommt zu dem, was wir hier tun, hinzu. Ich kann dabei auf dem Vorhandenen gut aufbauen. Auch der internationale Ruf des Orchesters ist gut, vielleicht nur noch ein bisschen leise. Daran müssen wir weiter arbeiten.
Hans-Jürgen Linke: Sie waren, wie zu hören war, nicht nur der Lieblingskandidat des Musikchefs und der Intendanz, sondern auch der des Orchesters. Wie wird man Lieblingsdirigent eines Orchesters?
Paavo Järvi: Das weiß ich nicht. Ich habe es darauf auch nicht angelegt. Ich achte beim Proben auf andere Dinge als auf meine Beliebtheit. Vielleicht war ja, und das würde ich mir wünschen, die Qualität der Probenarbeit ausschlaggebend. Da setze ich meinen Schwerpunkt: Für ein Orchester gibt es keine Abkürzungen zu internationalem Ruhm, das Fundament ist immer die Probenarbeit. Ich freue mich, dass das Orchester da die gleichen Ziele hat wie ich, und wahrscheinlich war es das, was wir in den Proben gleichermaßen gemerkt haben.
Interview
Paavo Järvi, aufgewachsen und ausgebildet in Estland und in den USA, gehört zu den gefragtesten Dirigenten seiner Generation. Seine internationale Erfahrung im Musikbetrieb, seine weit gespannten und zugleich differenzierten Ansichten zum Repertoire gedenkt der Hessische Rundfunk sich zunutze zu machen, indem er ihn jetzt zum Chefdirigenten des hr Sinfonieorchesters berufen hat. H.L.
Keine Abkürzungen; Gespräch mit Paavo Järvi, dem zukünftigen RSO-Chefdirigenten
Interview von Hans-Jürgen Linke
Frankfurter Rundschau, 11.05.2005
Hans-Jürgen Linke: Frankfurter Rundschau: Herr Järvi, Sie haben früher zu der Rockband von Erkki Sven Tüür gehört, der heute als der bedeutendste estnische Komponist der Generation nach Arvo Pärt gilt. Was für ein Instrument haben Sie da gespielt?
Paavo Järvi: Schlagzeug. Ich habe auch Perkussion studiert. Die Band hieß "In Spe", Erkki Sven Tüür hat Gitarre und vor allem Flöte gespielt. Ich habe aber nicht nur bei ihm, sondern auch in eigenen Bands gespielt, sehr gern übrigens auch in einer Heavy-Metal-Band.
Hans-Jürgen Linke: Haben Sie auch Stücke für die Bands geschrieben?
Paavo Järvi: Nein, das haben andere gemacht.
Hans-Jürgen Linke: Ihr jüngerer Bruder Kristjan ist Gründer des avantgardistischen Absolute Ensemble und Dirigent der Wiener Tonkünstler, Ihr Vater Neeme ist ein international renommierter Dirigent - mussten Sie lange über Ihre Berufswahl nachdenken?
Paavo Järvi: Ich hatte eigentlich keine andere Wahl als Dirigent zu werden. Das ist bei uns sozusagen eine Familienangelegenheit. Aber Musik hat nicht nur diese private Dimension, sondern auch prinzipiell eine politische. Ich komme aus dem kleinen Estland, das Jahrzehnte lang sehr stark fremdbestimmt war. Für uns Esten war Musik immer auch ein Mittel, um sichtbar zu werden.
Hans-Jürgen Linke: In Ihrer Repertoire-Politik für das hr Sinfonieorchester wollen Sie einen dreifachen Schwerpunkt setzen: auf nordische Komponisten, auf mitteleuropäische Romantik und auf zeitgenössische Musik. Entspricht das auch Ihren persönlichen Schwerpunktsetzungen?
Paavo Järvi: Keineswegs, das sind nur die Themen, auf die ich mich hier konzentrieren will und soll. Ich werde natürlich auch die Haydn-Tradition des Orchesters fortsetzen. Was die nordischen Komponisten anbelangt, habe ich da natürlich eine bestimmte Vorliebe, andererseits aber gibt es hier vieles, was in Mitteleuropa und auch sonst international kaum im Konzertbetrieb repräsentiert ist. Stenhammar, Tubin, das sind Komponisten, von denen man hier zu Lande oft kaum mehr als die Namen kennt, Carl Nielsen ist für mich einer der großen Sinfoniker. Da gibt es viel zu tun. Aber mein stilistischer Einzugsbereich ist viel größer als es sich in diesen drei Themen ausdrücken lässt. Mit dem Cincinnati Symphony Orchestra zum Beispiel spiele ich schwerpunktmäßig das internationale Standard-Repertoire. In den USA ist es ja sehr schwierig, mit zeitgenössischer Musik Erfolg zu haben, man muss sie vorsichtig einsetzen. Mit der Deutschen Kammerphilharmonie dagegen spiele ich ein ganz anderes Repertoire.
Hans-Jürgen Linke: Sie werden also mit dem hr Sinfonieorchester die Tradition Hugh Wolffs fortsetzen, der hier ein polyvalentes Orchester geschaffen hat?
Paavo Järvi: Das ist genau das, was mich an meiner hiesigen Aufgabe reizt.
Hans-Jürgen Linke: Sie arbeiten zur Zeit in verantwortlichen Positionen bei drei verschiedenen Orchestern in drei Nationen, das hr Sinfonieorchester ist Ihr viertes. Kommen Sie sich da nicht selbst ins Gehege?
Paavo Järvi: Ich bin ein sehr loyaler Mensch und tue immer dort, wo ich gerade arbeite, mein Bestes. Die Vielfalt meiner Aufgaben stört mich nicht, sie kommt eher der Vielfalt meiner Interessen entgegen. Schließlich ist es so, dass ich bei allen vier Orchestern sehr unterschiedliche Aufgaben wahrnehme. In Cincinnati muss ich alles Mögliche machen, die Struktur des Orchesters und seines Apparates ist dort ganz anders, als man es aus Mitteleuropa kennt. Ich bin dort nicht nur mit der Programmplanung befasst, sondern auch sehr stark mit Management-Aufgaben und Fundraising-Aktivitäten. Beim Estnischen Nationalorchester in Tallinn habe ich eher eine künstlerisch beratende Funktion. Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen ist ein selbstverwaltetes Kammerorchester, was wiederum eine völlig andere Arbeitsweise zur Folge hat.
Hans-Jürgen Linke: In Frankfurt werden Sie für den Hessischen Rundfunk arbeiten, eine große Institution, in der es eine hoch differenzierte Arbeitsteilung gibt, die den Rahmen für Ihre Aufgaben definiert.
Paavo Järvi: Genau. Die organisatorische Potenz einer solchen Institution empfinde ich als sehr entlastend. Meine Aufgabe soll nicht zuletzt darin bestehen, das internationale Renommee des Orchesters zu steigern.
Hans-Jürgen Linke: Lässt sich das realisieren, ohne Einschränkungen in der regionalen Arbeit in Kauf zu nehmen?
Paavo Järvi: Sicher. Die internationale Arbeit kommt zu dem, was wir hier tun, hinzu. Ich kann dabei auf dem Vorhandenen gut aufbauen. Auch der internationale Ruf des Orchesters ist gut, vielleicht nur noch ein bisschen leise. Daran müssen wir weiter arbeiten.
Hans-Jürgen Linke: Sie waren, wie zu hören war, nicht nur der Lieblingskandidat des Musikchefs und der Intendanz, sondern auch der des Orchesters. Wie wird man Lieblingsdirigent eines Orchesters?
Paavo Järvi: Das weiß ich nicht. Ich habe es darauf auch nicht angelegt. Ich achte beim Proben auf andere Dinge als auf meine Beliebtheit. Vielleicht war ja, und das würde ich mir wünschen, die Qualität der Probenarbeit ausschlaggebend. Da setze ich meinen Schwerpunkt: Für ein Orchester gibt es keine Abkürzungen zu internationalem Ruhm, das Fundament ist immer die Probenarbeit. Ich freue mich, dass das Orchester da die gleichen Ziele hat wie ich, und wahrscheinlich war es das, was wir in den Proben gleichermaßen gemerkt haben.
Interview
Paavo Järvi, aufgewachsen und ausgebildet in Estland und in den USA, gehört zu den gefragtesten Dirigenten seiner Generation. Seine internationale Erfahrung im Musikbetrieb, seine weit gespannten und zugleich differenzierten Ansichten zum Repertoire gedenkt der Hessische Rundfunk sich zunutze zu machen, indem er ihn jetzt zum Chefdirigenten des hr Sinfonieorchesters berufen hat. H.L.
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