Beethoven und der freie Wille
08.10.10
Hamburg. Möchten Sie Ludwig van Beethoven kennenlernen? Physisch ist das in diesen Tagen natürlich schwierig. Dafür kann man ihn posthum von seinen allerpersönlichsten Seiten erleben, die der alte Grantler zu Lebzeiten niemals freiwillig offenbart hätte: in den Konzerten der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen nämlich. Mit ihrem Zyklus der Beethoven-Sinfonien feiern das kleine, feine, selbstverfasste Orchester und sein Chef Paavo Järvi weltweit Triumphe. Ihr jüngster Auftritt in der Laeiszhalle war, es muss ein Superlativ her, eine Sternstunde. Vom ersten Takt der Ouvertüre "Die Geschöpfe des Prometheus" an führten die Musiker ganz ohne erhobenen Zeigefinger vor, was Orchesterkultur jenseits verkrusteter Strukturen sein kann: Ohne Zeit zu verlieren, fächerten sie die einleitenden Akkorde so auf, dass man in der klanglichen Einheit gleichwohl jede Stimme zu erkennen glaubte. Dieses scheinbare Paradox zog sich durch den ganzen Abend: Einerseits wirkte der musikalische Gestus wie aus einem Guss. Im rasenden ersten Satz der Vierten Sinfonie hing nichts über; jede Antwort kam pünktlich; wo die Motive durch die Stimmen wanderten, da wanderten sie, ohne je zu stolpern.
Und andererseits wahrten die Instrumente noch in den üppigsten Akkorden ihren spezifischen Klang - befördert durch die hörbare Beschäftigung mit historischem Instrumentarium: Da trafen die Streicher mit ihren vibratoarmen, rauen, geraden Kantilenen mitten ins Herz, da schmetterten die Hörner und zauberten die Holzbläser gleich neben Beethovensche Gewitter die lieblichste Idylle.
Järvi fand für jeden Satz seinen musikalischen Charakter. Mit Atem, mit diskreten Stauungen und bis zum Zerreißen gedehnten Fermaten baute er Spannung auf und schuf Momente von erschütternder Intimität. Große Gesten brauchte Järvi nicht; schon eine kleine Bewegung der Fingergrundgelenke veränderte den Klang. Und im Scherzo der "Eroica", der Dritten Sinfonie, ließ er im vertracktesten Staccato-Wechselspiel die Arme sinken und hörte zu. Das war nur der sichtbarste Ausdruck dessen, was an diesem Konzert so beglückend und ungewöhnlich war: Aus jedem Ton sprach die innere Beteiligung, der Wille, die Musik genau so und nicht einen Deut anders zu spielen. Solche Wucht, solche Spannkraft kann man nicht dekretieren. Nadelfein und kraftvoll präsent waren die Bässe, dass es nur so federte. Die zweiten Geigen eröffneten den langsamen Satz der Vierten Sinfonie mit einem Hornruf, gaben sich dann als Begleitstimme zu erkennen und machten die Bühne frei für das zarte Thema. Und ein Pauken-Auftakt im Trauermarsch der Eroica barst derart vor gebündelter Energie, dass einem der Atem stehen blieb.
Zu welchem Komponisten passte dieses klingende Manifest des freien Willens besser als zu dem unduldsamen, politischen Beethoven?
http://www.abendblatt.de/kultur-live/article1656190/Beethoven-und-der-freie-Wille.html
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