Die Beethovenbesitzer

Holger Noltze
04.01.11
Frankfurter Rundschau


Christian Thielemann dirigiert und bespricht die neun Sinfonien

Sieben Symphonien lang waren sie sich ziemlich einig; dann seufzt Joachim Kaiser, Christian Thielemann gegenübersitzend, mitten in der Erörterung der Achten erleichtert auf: „Welches Glück, dass wir einmal verschiedener Ansicht sind!“ Die Harmonie zwischen Kritiker und Dirigent, beide im Besitz von allerhand Beethoven-Gewissheiten, ist zu besichtigen in neun Dokumentationen, die Thielemanns Einspielung aller Neune mit den Wiener Philharmonikern beigegeben sind, und die eben daran kranken: dass sich die Herren so einig sind. Kein Wunder, denn hier werden, nie ohne den Ausdruck höchster Bedeutsamkeit, doch größtenteils Plattitüden ausgetauscht.

Schier endlos wird erörtert, warum es gut ist, die Stücke in der Reihenfolge ihrer Nummerierung aufzuführen, warum die Zweite noch ein bisschen toller als die Erste ist (die aber auch schon ganz toll ist), die Achte auch ganz außerordentlich, aber vielleicht doch nicht ganz so außerordentlich wie die Siebte. Dass Beethoven manchmal keine besonderen Themen hat, es aber darauf ankomme, was er draus mache. Dass „in der Durchführung ja immer die Krise kommt“, und vor allem, dass „der Beethoven“ immer genau weiß, was er tut.

Thielemann, der Praktiker, versteigt sich zu der Spekulation, es gebe eine Art Symphonien-Masterplan, weshalb er, bevor er den Taktstock zum ersten Satz der Ersten (erster Satz: immer der Wichtigste!) hebe, schon an das Finale der Neunten denke.

Spätestens da hätte man gerne Einwände vorgebracht, etwa, dass solche Vorstellungen von Totalität, Ganzheit, Vielheit in der Einheit doch vor allem Sehnsüchte der Nachwelt sind, die sich einen Reim machen möchte auf das Ungeheuerliche. Vor allem, dass man vom Hochsitz der Ex-Post-Betrachtung leicht übersieht, was die neun Symphonien so einzigartig macht: dass jede aufs Ganze geht und jedes Mal die Gattung ein bisschen anders definiert und auch ein bisschen rettet, bis zum prekären Vokalfinale der Neunten. Der Gedanke des Riskanten scheint diesen Beethovenkennern abhanden gekommen, weil sie ihn zu sicher zu besitzen glauben.

Das ist schade, denn beide wissen bestimmt mehr von der Sache, als sie hören lassen. Dass man, wie Thielemann dreimal ausführt, beim Musikmachen nicht zu viel denken soll, ist sicher wahr; hinterher ist es aber durchaus angeraten und kann mancherlei zu Tage bringen.

Spannender sind die unkommentiert eingeschnittenen Vergleichspassagen, meist Aufnahmen von Karajan und Bernstein, leider viel zu selten von Paavo Järvis Einspielung mit der Bremer Kammerphilharmonie. Denn in einer Bremer Schulaula sitzt die wirkliche Konkurrenz im Kampf um Deutungshoheit. Järvi zeigt, wie bei Beethoven aus tausend klanglichen Einzelinformationen Energiefelder entstehen, er ist dynamisch und transparent, bisweilen elektrisierend, wo Thielemann und die Wiener dunkelschwer und immer ein bisschen wattig klingen. Für die Pointen der Achten bleibt solcher Wille zum Dunklen blind, das unvermittelte Dazwischenfahren im ersten Satz etwa, als ob ein Uhrwerk überdreht ist, kommt hier überraschungslos. Es wird zu wenig gestaunt bei diesem neuen Wiener Beethoven-Zyklus.

Den Kennern kommt allzu leicht der Gedanke an das Risiko abhanden

Vielleicht sieht man beim Videomitschnitt auch zuviel vom Dirigenten. Es ist aber verräterisch, wie Thielemann, in der Vierten etwa, breitbeinig wie ein römischer Wagenlenker dasteht, wie er sich nach den Satzenden kurz umschaut mit diesem milden Siegerlächeln…

Doch entscheidend ist, was musikalisch herauskommt. Allzu absehbar und gelegentlich aufdringlich die Temporückungen, das ostentativ plötzliche Langsamer- oder Leiserwerden, das Luftholen vor dem Höhepunkt, als ob, was fettgedruckt schon da steht, noch unterstrichen werden müsste. So wird im ersten Satz der Siebten vor der Wiederholung des Hauptthemas überdeutlich Anlauf genommen. Da bläst es zum großen Aha!, und ist doch bloß banal. Auf das trivial Affirmative folgt dann ein kleines Wunder, und man ärgert sich beinahe, weil sich zeigt, was möglich gewesen wäre. Das Allegretto der Siebten gelingt famos, zumal die schwebende Fugato-Passage mit schönster Zurückgenommenheit; das Scherzo leuchtet, als wär’s ein Feentanz von Mendelssohn.

Das andererseits Sympathische an Thielemanns Beethoven-Bemühung ist, dass das Resultat dieser preußisch-wienerischen Begegnung oft gar nicht das Triumphal-Volksrednerhafte, sondern das Melancholische ist. Da fangen Soloklarinette und -oboe, die Flöte ihre einsamen Reden an und erzählen von Schönheit und Vergeblichkeit, und dann kommen die sensationellen Wiener Hörner und strahlen einem direkt ins Herz hinein. Vielleicht deshalb gerät gerade die gelassene Landschaftsmalerei der „Pastoralen“ zum Höhepunkt des Zyklus’.

Und das „Adagio molto e cantabile“ der Neunten singt tatsächlich, weil Thielemann hier seiner Maxime treu bleibt, dass nichts zu tun manchmal das Beste ist. Er weiß, wie man einen großen Bogen spannt und er hat keine Angst vor Pathos. Er kann warten. Er weiß, wie man die Schläge am Anfang der „Coriolan“-Ouvertüre so mit Tragik, Drama, Verzweiflung aufladen kann, dass es durch Mark und Bein fährt. Wenn der Beethoven-Dirigent Thielemann sich seiner Sache bloß nicht so sicher wäre! Oder vielmehr: Wenn er nicht so täte! Denn vielleicht lauern hinter dem blasierten Gefuchtel mehr Zweifel, als er, bis jetzt jedenfalls, zu zeigen wagt.

An den jüngsten orchestralen Manövern im klassischen Kernrepertoire, an Thielemanns Pathos-Proben wie an Järvis Partitur-Durchleuchtungen müssen sich die Geister scheiden. Das ist eine gute Nachricht. Beethovens Symphonien enthalten eine Botschaft fürs Heute. Man kann sie wieder hören, und man könnte mit Gewinn über ihre Deutung streiten. Nur nicht im Plauderton der Beethovenbesitzer.

http://www.fr-online.de/kultur/musik/die-beethovenbesitzer/-/1473348/5061520/-/index.html

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