Klassisch: Musik der Anteilnahme

Südwest Presse
BURKHARD SCHÄFER
20/03/2014

Geografisch gesehen ist Estland ein Zwerg, musikalisch ist es ein Riese - was nicht zuletzt in der Chortradition des Landes begründet liegt. Anfang der 90er Jahre sangen die Esten ihre sowjetischen Besatzer außer Landes, die "singende Revolution" ging in die Geschichte ein.
Komponist Erkki-Sven Tüür Foto: swp

Einen Abglanz dieser archaischen Kraft meint man in der siebten Sinfonie von Erkki-Sven Tüür (geboren 1959) zu hören, dem neben Arvo Pärt wohl bekanntesten estnischen Komponisten. Geschrieben für Chor und Orchester, ist Tüürs Siebte eigentlich (s)eine "vorgezogene" Neunte. Genau wie Beethovens Urbild ist sie vom Pathos der Humanität getragen, auch wenn Tüür dem Werk nicht Schiller, sondern Texte von Siddhartha Gautama, Jimi Hendrix oder Mutter Teresa zu Grunde legt. Anders das pulsierende, klanglich und rhythmisch vielschichtige Klavierkonzert von 2006, das hier von der Pianistin Laura Mikkola gespielt wird. Der estnische Dirigent Paavo Järvi und das Frankfurter Rundfunk-Symphonie-Orchester leisten vorbildliche Arbeit. Superb! (Erschienen bei ECM).
Drei Fragen an. . .
. . . den Komponisten Erkki-Sven Tüür
Ihre siebte Sinfonie heißt "Pietas". Was bedeutet das?
Das lateinische Wort "Pietas" heißt Mitgefühl. Um Anteilnahme und Liebe geht es auch in meiner Sinfonie. Ich habe dafür Zitate mehr oder weniger berühmter Menschen kompiliert, die aus vielen Zeiten und kulturellen Bereichen stammen. Als ich dann die Zitate am Stück las, hatte ich den Eindruck, dass sie auch von einer einzigen Person stammen könnten.
In welcher Traditionslinie sehen Sie sich in Bezug auf Ihre Sinfonie?
Der entscheidende Punkt ist, dass meine siebte Sinfonie nicht die Stimme für die eine oder andere Tradition erhebt, ich wollte vielmehr die tiefen Verbindungslinien und erstaunlichen Ähnlichkeiten zwischen den Gedanken der Menschen aus ganz unterschiedlichen Epochen aufscheinen lassen. Wir dürfen niemals aufhören, in Hinsicht auf Empathie, Mitleid und gegenseitiges Verständnis zu wachsen.
Ihr Klavierkonzert trägt keinen Titel, wie "abstrakt" ist dieses Werk?
Sicherlich hatte ich beim Komponieren viele technisch-abstrakte Dinge im Kopf hin und her gewälzt, gleichzeitig habe ich auch natürlichen Entwicklungsprozessen wie dem Wachstum der Pflanzen große Aufmerksamkeit geschenkt. Du pflanzt ein Samenkorn - und siehst die Blume wachsen. Rein wissenschaftlich analysiert ist das ein äußerst komplexer Vorgang, aber mit dem Zeitraffer betrachtet, wirkt alles ganz folgerichtig und natürlich. Ein Wunder! Ich denke, jeder Komponist wäre glücklich, wenn die Zuhörer sein Werk ähnlich erlebten.
 
http://m.swp.de/ulm/nachrichten/kultur/Klassisch-Musik-der-Anteilnahme;art4308,2510878

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