Dirigent Paavo Järvi : "Paralysiert vor Angst"

Südwest Presse
BURKHARD SCHÄFER
14 April 2014

Der Dirigent Paavo Järvi ist der Spross einer estnischen Musikerdynastie und auf dem ganzen Erdball zuhause. Ein Gespräch über die Macht der Musik und Estlands Angst vor der russischen Politik.

Einer der profiliertesten Dirigenten seiner Generation: Der aus Estland stammende Amerikaner Paavo Järvi leitet seit 2010 das Orchestre de Paris. Hier dirigiert er den zu den größten und angesehensten Orchestern der Welt zählenden Musikkörper am 1. September 2011 in der Estonia Concert Hall in Tallinn. Foto: afp  

In welchem Alter war für Sie klar, dass Sie Musiker werden wollten?
PAAVO JÄRVI: Nicht nur Musiker! Von meinem vierten Lebensjahr an wusste ich, dass ich auch ein Dirigent werden wollte. Ich hatte zu dieser Zeit ja noch nicht mal eine wirkliche Idee davon, was ein Dirigent überhaupt macht. In diesem Alter hatte mein Wunsch nur damit zu tun, wie ich meinen Vater sah. Mit welcher Liebe und positiven Aufgeregtheit er über Musik sprach und mit ihr umging. Dazu hatte er eine Fähigkeit, diese Liebe zu vermitteln. Er sagte immer "hör da zu", oder "ist das nicht großartig?". Und als ich in das Alter kam, in dem ich darüber nachdenken konnte, was mein Berufswunsch ist, war für mich klar, dass ich immer das Gleiche sein wollte wie er.
Wie lange haben Sie in Ihrer Heimat Estland gelebt?
JÄRVI: Ich bin dort aufgewachsen bis zum Alter von 17 Jahren. Das war während der Zeit der sowjetischen Besatzung.
Haben Sie unter den russischen Besatzern gelitten?
JÄRVI: Ehrlich gesagt, zu dieser Zeit - wir haben Estland 1980 verlassen - war ich noch ein Jugendlicher. Ich bin 1962 geboren. Ich war ein Student in der späten Breschnew-Ära, und diese Art von Repressionen, von denen man aus der Stalin-Zeit noch hörte, existierten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Aber die basalen sowjetischen Werte waren natürlich noch da. Die Grenzen waren geschlossen, die Sprache war unterdrückt, die Medien waren kontrolliert. All diese Dinge eines totalitären Regimes waren tagtäglich lebendig - das, was wir jetzt in einer wachsenden Anzahl von Staaten wieder sehen.
Haben Sie Angst vor der Krim-Krise? Haben die Balten Angst?
JÄRVI: Angst ist gar nicht das richtige Wort. Sie sind in Schrecken versetzt, sie sind direkt paralysiert vor Angst. Und dies aus zwei Gründen. Erstens: Die Realität, die in der Ukraine und auf der Krim ihren Lauf nimmt. Zweitens: Die Ex-Sowjetländer realisieren nun in großem Maße - ich möchte nicht das Wort Desillusionierung benutzen -, dass die westlichen, demokratischen Werte nicht wirklich auf allen Gebieten existieren. Sie merken, dass sie keinen Schutzschild besitzen. Sie dachten, die westliche Welt würde sie schützen und nun müssen sie erkennen, dass dies gar nicht der Fall ist. Und so herrscht eine spezielle Atmosphäre der Angst, in der sie wahrnehmen, dass sie in Gefahr schweben und dass man auf die Alliierten nicht zählen kann.
Vor 25 Jahren schafften die Esten, Letten und Litauer die singende Revolution. War und ist das die eigentliche "Waffe" der Balten?
JÄRVI: Auf alle Fälle! Und das war eines der unglaublichsten und wundervollsten Geschehnisse unserer Region, dass es die Musik und das Singen waren, die uns geschützt und vereint haben. Wenn man zurückschaut, ist es unglaublich symbolisch. Zu der damaligen Zeit war unser baltisches Gebiet, das eine Ex-Sowjet-Region ist, in dieser Sache geistig vereinigt und hat nicht mehr an eine autokratische Diktatur geglaubt. Und nun, 25 Jahre später, hast du eine Situation, wo Russland wieder in Länder einmarschiert. Und die Leute im Westen würden dazu sagen, ach nein, das wird niemals passieren, das ist eine andere Welt. Und wir alle wollen glauben, dass das wahr ist, aber ich fürchte, das ist es nicht.
Die aus der ehemaligen Sowjetunion stammende Komponistin Sofia Gubaidulina wünschte sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Verbrüderung. Ein Wunsch, der bei den baltischen Musikern mit Skepsis gesehen wird.
JÄRVI: Ich bin mir sicher, wenn Sofia Gubaidulina sagt, "ich wünsche mir, dass wir alle Freunde und Brüder sind", dann meint sie nicht, dass wir ein Teil des großen russischen Reiches sein sollen. Gubaidulina ist nicht russisch, sie ist tartarisch. Es ist wirklich eine absolut verständliche Wunschvorstellung eines Menschen, besonders eines Künstlers, so nah wie möglich mit den Leuten seiner Region geistig verbunden sein zu wollen und im Endeffekt nicht nur in seinem Umfeld, sondern überall auf dem Globus. Aber diese Reaktion der restlichen Welt hat enorm mit der Angst vor russischer Okkupation zu tun. Denn sowohl die russische ideologische Besatzung als auch die imperialistische Okkupation waren ein Albtraum für alle russischen Nachbarn. Meine Mutter ist Russin, ich liebe Russen. Ich mag russische Musiker, ich habe mehr russische Musiker-Freunde als andere. Mein Problem waren niemals die Russen oder die russische Kultur. Das russische imperialistische Denken ist es, das mich bestürzt.
Was beunruhigt Sie am meisten?
JÄRVI: Wenn auf diese Art ungedeckte Kräfte in ein anderes Land gehen und dort ein Referendum erzwingen, hat das nichts zu tun mit den Wurzeln des großen russischen Reichs. Das ist das beste Beispiel für KGB-Taktiken, benutzt in einer naiven westlichen Welt. Die beobachten, diskutieren und meinen, sie müssten Meetings abhalten. Das ist eine typische westliche Reaktion, und da ich nun selbst seit Jahren ein Westbewohner bin, kann ich beide Seiten nachvollziehen. Ich weiß aber auch, wie diese Art der Naivität von Putin benutzt werden kann, um das alles durchzusetzen, was er will. Auf der anderen Seite sehe ich, wie Syrien sich selbst killt und in Afrika töten sich die Leute gegenseitig - wir haben diese völlig kranke Welt. Haben wir irgendetwas aus der Geschichte der Menschheit gelernt? Nein! Alles geht nur um Machtspiele, Gewalt und finanzielle Interessen. Das ist enttäuschend.

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