«Musik muss man gemeinsam machen»

nzz.ch
Marco Frei
25.02.2018

Im Sommer endet die kurze Ära von Lionel Bringuier als Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters. Sein Nachfolger Paavo Järvi ist schon vor seinem Einstand 2019 sehr präsent in Zürich. Worauf dürfen sich Musiker und Musikfreunde einstellen?




Die Fotografie geniesst Kultstatus in Estland. Der grosse Komponist Dmitri Schostakowitsch ist darauf zu sehen, zusammen mit dem estnischen Dirigenten Neeme Järvi. Auch ein Kind lugt etwas scheu nach links. Es ist Paavo, der älteste Sprössling des «Järvi-Clans». Sein Bruder Kristjan ist ebenfalls Dirigent, die Schwester Maarika bläst die Flöte. Das tut sie auch im Estonian Festival Orchestra (EFO), das 2011 gegründet wurde, von Paavo Järvi. Seinen Sitz hat das Orchester in Pärnu, einem Seebad südlich von Tallinn. Hier haben sich einst viele Persönlichkeiten des sowjetischen Musiklebens eine Sommerfrische gegönnt: der Geiger David Oistrach etwa oder eben Schostakowitsch – und hier ist 1973 auch die besagte Aufnahme entstanden.



Sommers ist in Pärnu der Bär los. Im Winter liegt hier hingegen der Hund begraben. Trotzdem kommt an diesen eisigen Tagen im Januar das EFO in Pärnu zusammen, um zu proben. Als Dirigent versteht sich Paavo Järvi als Teil einer Gemeinschaft, ganz leger mit Turnschuhen und T-Shirt. Ein «PR-Gag» ist das nicht, denn: Wer mit ihm spricht, muss akzeptieren, dass ihn pausenlos Musiker belagern. Auch seine Schwester schaut vorbei. Wie Järvi als Bruder ist? «Furchtbar! Er ruft nicht an, meldet sich nicht: schlimm! Und seine Witze sind wirklich schlecht.» Er nimmt es gelassen und lächelt, wohl mehr verlegen als vergnügt. Seine eigene Person rückt er nämlich nicht so gern in den Fokus. Das braucht er nicht, um zu erreichen, was er will.

Herr Järvi, von Bernard Haitink stammt der Ausspruch, dass er als Dirigent nur die Luft sortiere. Was halten Sie davon?

Dass man die Musiker einfach spielen lasse und als Dirigent im Grunde gar nichts tue, sind schöne Worte. Sie entspringen meiner Meinung nach einer «Gentleman-Attitüde», um auf derartige Fragen nicht einzugehen. Nur weil sich Bernard Haitink nicht viel bewegt, heisst es nicht, dass er nicht viel macht. Er erkennt sofort und genau, was ein Orchester wann benötigt. Wenn es nicht gebraucht wird, tut er es nicht. Er vertraut der Intelligenz und der Integrität der Musiker. Und wenn Haitink den Raum betritt, sitzen alle bereits an der Stuhlkante: allein weil er sich ein bestimmtes Renommee erworben hat.

Was folgern Sie daraus?

Grosse Dirigenten wie Haitink oder auch mein Vater Neeme Järvi haben mit der Zeit erkannt, dass vieles, was sie zuvor taten, nicht zwingend notwendig war. Indem man einiges bewusst weglässt, offenbart sich allmählich, wie unnötig manche Bewegungen oder Informationen sind. Sie irritieren nur. Vieles ist einzig dem eigenen Ego geschuldet, um «grosse Gefühle» aufzuzeigen. Aber niemanden kümmert das, und es hat keinen Effekt auf das Ergebnis.

Was haben Sie noch von Ihrem Vater gelernt?

Alles! Seinetwegen liebe ich Musik und bin Musiker. Die ganze Dirigiertechnik habe ich von ihm gelernt, auch den Enthusiasmus, das Sammeln von Aufnahmen und das Studieren des Repertoires. Das hat mich sehr vertraut gemacht mit den unterschiedlichen Traditionen und Möglichkeiten der Interpretation. Vor allem aber wirkten seine Liebe und Begeisterung für das, was er gerade tat, absolut ansteckend. Das Dirigieren ist ein langfristig angelegter Beruf und demzufolge eine ständige «work in progress». Jedenfalls sollte das idealerweise so sein. Man sollte früh anfangen, um eine gewisse Erfahrung zu sammeln.

Genau das trifft auf den Werdegang von Järvi zu. Das betont auch Erkki-Sven Tüür. Er ist neben Arvo Pärt der international bekannteste Komponist Estlands und ein enger Weggefährte von Järvi. Sie haben sich Ende der 1970er Jahre kennengelernt, an der Musikhochschule in Tallinn, wo Järvi neben Dirigieren auch Schlagzeug studierte. In der von Tüür gegründeten Rockgruppe In Spe, die im Baltikum während der Sowjetzeit subversiven Kultstatus genoss, trommelte Järvi mit. Seine Laufbahn als Dirigent nennt Tüür «einzigartig», weil Järvi «kluge Entscheidungen» getroffen habe. «Er hat alles Schritt für Schritt getan, und die Kontinuität sowie die stetige Optimierung des Könnens sind faszinierend.» Tatsächlich fällt auf, dass Järvi schon Mitte der 1990er Jahre in Malmö sowie beim Kungliga Filharmoniska Orkestern in Stockholm ein breites Repertoire gepflegt hat. Andererseits arbeitet Järvi danach mit Klangkörpern, die in Struktur und Ausrichtung zum Teil erheblich voneinander differieren.

Zehn Jahre lang leitet er ab 2001 das Sinfonieorchester in Cincinnati, wirkt von 2006 bis 2013 beim Radiosinfonieorchester des Hessischen Rundfunks (HR) in Frankfurt. Überdies folgt er einem Ruf zum Orchestre de Paris und tritt 2015 als Chefdirigent bei den NHK-Sinfonikern in Tokio an. Ausser mit diesen grossen Klangkörpern arbeitet Järvi seit 2004 mit der Deutschen Kammerphilharmonie in Bremen zusammen. Zuvor hatte Järvi sein Studium am Curtis Institute in Philadelphia sowie in Los Angeles fortgesetzt, nicht zuletzt bei Leonard Bernstein. Seine ganze Familie war 1980 in die USA emigriert.

Wie hat Sie Ihr Vater an die Musik herangeführt?

Er hat nie gefordert: «Du musst das oder jenes tun.» Wenn wir eine Aufnahme zu Hause anhörten, sagte er mehr: «Hast du das eben gehört? Ist das nicht grossartig? Hast du wahrgenommen, wie er sich an dieser Stelle Zeit nimmt?» Es war wie eine Art Spiel, ein Lehrspiel. Manchmal nahm er die Partitur zur Hand, blätterte sie auf und fragte uns: «Wo sind wir gerade?» Auf diese Weise haben wir frühzeitig gelernt, wie eine Partitur notiert ist: eben durch die praktische Anschauung. In diesem Sinn ist alles seine Schuld.

Obwohl Sie sich interpretatorisch von Ihrem Vater erheblich unterscheiden?

Es gibt Unterschiede, ja. Man wird älter, nimmt alles mit, was man an Erfahrungen angesammelt hat. Mein Vater hat viel länger in der Sowjetunion gelebt als wir Geschwister. Wir haben eine Ausbildung genossen in Estland, aber dann sind wir nach Amerika gegangen. Wir sind also verbunden und doch auch verschieden. Ich bin eine andere Person. Das ist normal und auch gesund.

Wie ist Ihr Vater mit seinen Musikern umgegangen?

Mit Daniel Barenboim hatte ich einmal eine wunderschöne Unterhaltung. Er sagte mir: «Wissen Sie, ich habe noch nie und nirgends einen Orchestermusiker getroffen, der Ihren Vater nicht mag.» Ich glaube, das besagt etwas Entscheidendes: Niemand lässt sich zwingen, schöne Musik zu machen. Das erscheint allerdings wie ein Widerspruch, wenn man sich an manche grosse Dirigenten des 20. Jahrhunderts erinnert. Nehmen Sie George Szell, Fritz Reiner, Eugene Ormandy oder Leopold Stokowski: Sie haben nicht nur die grossen amerikanischen Orchester massgeblich aufgebaut, sondern die Musiker buchstäblich terrorisiert.

Das galt ebenso für Arturo Toscanini, und auch Christian Thielemann ist nicht gerade ein Friedensstifter, oder?

Jedenfalls wird über jene Dirigenten oft und gern gesagt, sie hätten einen «tollen Ensembleklang» kreiert. Doch was haben sie tatsächlich erreicht? Wenn wir zurückblicken, müssen wir feststellen: Sie haben ihr eigenes Werk vergiftet. Man kann von ihrem Trunk nicht trinken, weil sie einen permanenten Antagonismus zwischen den Musikern und den Dirigenten erschaffen haben. Es ist ein giftiges Gebräu aus Misstrauen, Furcht und Konflikten bis hin zu im Grunde offener Verachtung. Leider ist das ein Teil der DNA mancher Orchester in Amerika geworden.

Wie meinen Sie das?

In Amerika ist dieser Antagonismus häufig spürbar. Er wurde gewissermassen von Generation zu Generation vererbt. Die Musiker misstrauen zunächst einmal allem. Jeder Wandel oder Wechsel, was immer man beigeben oder weglassen möchte, wird grundsätzlich als ein Angriff auf das Wohl der Musiker betrachtet. Für sie ist der Dirigent nicht jemand, der sich um sie kümmert, sondern versucht, ihnen weh zu tun. Das gleicht im Grunde der Reaktion eines misshandelten Kindes.

Welche Lehre ziehen Sie für sich selbst daraus?

Mein Vater ist stets ein «Mitmusiker» gewesen, und auch das habe ich von ihm. Natürlich ist das eine Haltung, die dem partnerschaftlichen Geist der Kammermusik entspringt. Das ist der Schlüssel zu aller Musik, jedenfalls für mich. Musik muss man gemeinsam machen.

Dieser Ausspruch könnte auch von Claudio Abbado stammen. Es geht um ein Aufeinanderhören und -achten, eine gleichberechtigte Partnerschaft aus dem Geist der Kammermusik: ein offener Austausch im Sinne des «Fare musica insieme». Diese Haltung wird auch an der Scuola di Musica in Fiesole bei Florenz gelebt, die Abbado als Dirigent geistig mitgeprägt hat. Wer mit Musikern spricht, die mit Järvi schon lange arbeiten, hört stets ähnliche Charakterisierungen. Aus der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen (DKB) ist etwa zu hören, dass sich Järvi als «Partner» fühle: ein «Kammermusiker unter Kammermusikern». «Er möchte zusammenfassen, was aus dem Orchester kommt», sagt die Geigerin Beate Weis. «Für uns ist er ein perfekter Partner, weil er kein Problem damit hat und es sogar liebt, dass das Orchester generell aktiv teilnimmt am Entstehungsprozess einer Interpretation», ergänzt ihr Kollege Jörg Assmann. «Natürlich hat Järvi am Ende die Verantwortung, aber er lässt gewähren.»

Auch Musiker aus grossen Sinfonieorchestern bestätigen dies. «Bei uns in Frankfurt hat er es geschafft, dass alle aus einem partnerschaftlichen Geist heraus musizierten», betont Geigerin Sha Katsouris von den HR-Sinfonikern. «Das ist sehr viel wert für ein grosses Orchester. Er hat die Haltung des Musizierens wirklich verändert.» Für das Estonian Festival Orchestra (EFO) spricht Marika Krupp wiederum von einer «Fluidität der Ideen und Meinungen». «In den Proben hört er auch uns an, wenn jemand eine Frage hat oder einen Vorschlag. Er erlaubt diesen Prozess.» Für die Violinistin ist Vertrauen das zentrale Wort in der Zusammenarbeit mit Järvi, da es eben eine «musikalische Partnerschaft» ausdrücke.

«Er verschafft sich Respekt, ohne das irgendwie zu forcieren oder einzufordern. Wir folgen ihm, weil wir ihm total vertrauen und ihn einfach mögen.» Als «freundlich und warmherzig» charakterisiert ihn wiederum ihre Kollegin Aet Ratassepp. «Er ist ein grosser Magnet, weiss, wie man Musiker anzieht: musikalisch und menschlich.» Demzufolge zählt Abbado für Järvi zu den grossen Vorbildern, und auch Iván Fischer bezeichnet er als «wahrlich aussergewöhnlichen Musiker». Beide Namen verbinden sich überdies eng mit zwei Klangkörpern, die Järvi als «entscheidende Inspirationen» für das EFO benennt: das Lucerne sowie das Budapest Festival Orchestra.

Im Estonian Festival Orchestra stammt jeweils die Hälfte der Musiker aus Estland und aus der ganzen Welt, auch aus Russland. Geht das problemlos, angesichts der gegenwärtigen Spannungen zwischen den baltischen Staaten und Russland?

Unser Orchester möchte auf der einen Seite Estland repräsentieren, als kultureller Botschafter, aber es ist ein internationales Ensemble. Wir schliessen niemanden aus, sondern nehmen grundsätzlich alle auf, woher auch immer sie stammen. Ich würde niemals Musiker ausladen, nur weil sie aus Russland sind. Dies wäre das Ende der Musik als globaler Sprache. Wir wollen Brücken schlagen zwischen Menschen und Kulturen, was zwangsläufig das Politische berühren kann.

Taugt Kunst generell als Katalysator für das konfliktreiche Weltgeschehen?

Jedenfalls sind mit ihr stets grosse Werte verbunden. Ich bin nicht naiv. Mir ist klar, dass Musik weder Krieg noch Terror verhindern kann. Aber ohne Musik nähern wir uns möglichen Katastrophen schneller an. In diesem Sinn ist unsere Arbeit tatsächlich brisant und kontrovers. Für mich gilt ganz klar: Alle Musiker sind meine Geschwister. Genau das ist unsere Botschaft.

Heisst das auch, dass Sie als Dirigent führen, ohne zu führen?

Es ist grundsätzlich ein Missverständnis, dass Autorität mit Angst zu tun haben müsse. Daran glaube ich nicht. Mit Liebe kann man sehr viel mehr erreichen als mit Angst. Auf der anderen Seite muss es eine klare Struktur geben, wenn wir alle gemeinsam an einem Stück feilen und intensiv arbeiten wollen. Dünkel aber und pseudoautoritäres Gehabe lenken nur vom Wesentlichen ab. Das ist ermüdend und langweilig, völlig unerheblich. Am Ende des Tages befördert das keine nachhaltigen Erfolge, sondern bringt allenfalls kurzfristige Ergebnisse. Wer mit Freude dabei ist, musiziert automatisch besser. Ich persönlich kenne keine Musiker, die schlecht spielen möchten.

Bedeutet das umgekehrt, dass Musiker nicht mit dem Autopiloten falscher Routine musizieren sollten?

Natürlich. Im Falle des EFO kenne ich alle Musiker persönlich. Ich frage sie an, lade sie ein, und sie machen ihrerseits bei uns aus klaren Gründen mit. Wir suchen sie auch wegen ihrer Persönlichkeit aus – die Persönlichkeit ist genauso wichtig wie die musikalische Kompetenz und Qualität. Aus diesem Grund halte ich übrigens Probespiele hinter dem Vorhang für problematisch, weil sie sehr limitiert sind. Alles muss passen, übrigens auch die Körperlichkeit. Manche Musiker passen schon allein deswegen nicht zu einer Gruppe, weil sie sich kaum oder unpassend bewegen. Sie glauben nicht an eine bestimmte Art der physisch-nonverbalen Kommunikation.

In Zürich werden Sie allerdings die Musiker nicht ohne weiteres aussuchen können, oder?

Ja, aber ich habe noch nie irgendein Verlangen verspürt, dies in einem Orchester zu tun. Mir geht es darum, das Potenzial des Zusammenspiels und des gemeinsamen Eruierens von Musik zu optimieren. Es wird natürlich etwas Zeit beanspruchen, sich aneinander zu gewöhnen. In jedem Orchester gibt es überdies bestimmte Traditionen, und auch das müssen wir berücksichtigen: wie in jeder Partnerschaft.

Fühlen Sie sich in einem Orchester wohl, das eine lang gepflegte Tradition konserviert?

Nein, ich kann nicht Teil einer Routine sein. Wenn Musiker sagen, dass sie bestimmte Werke bereits bestens kennen würden, machen sie sich schon verdächtig: weil es Ausdruck einer bestimmten Erwartung ist. Das ist kein guter Ansatz, um stets von neuem den Prozess des Ergründens gemeinsam zu beschreiten. Man sollte nie aufhören zu spüren, dass in Partituren etwas verborgen liegt, was wir noch nicht wissen. Erst mit einer solchen Grundhaltung kann eine Interpretation etwas Besonderes werden.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Für mich persönlich gibt es nichts Schwierigeres, als die Musik von Johannes Brahms lebendig und interessant zu gestalten. Eine Sinfonie von Brahms in der immer gleichen massigen Art zu spielen, sehr grau in der Farbgebung, das ist für mich überhaupt nicht interessant. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass ein grosses Sinfonieorchester nur dann das gewaltige sinfonische Repertoire in höchster Qualität bewältigen kann, im dichtgedrängten Alltag, wenn es auf irgendeiner Art von Erfahrung aufbauen kann. Ist beides vorhanden, die Erfahrung und die Offenheit, hat man beste Voraussetzungen.

Ähnlich hat es von 1995 an David Zinman beim Tonhalle-Orchester vorgelebt. Die Parallelen zwischen ihm und Järvi sind ohnehin staunenswert, etwa im Blick auf das Repertoire. Beide Dirigenten haben mit Einspielungen der Sinfonien Beethovens diskografische Massstäbe gesetzt, so unterschiedlich die Lösungen auch sind: Zinman mit dem Tonhalle-Orchester (Arte Nova) und Järvi mit der Deutschen Kammerphilharmonie (RCA). Peter Zelinka sieht zudem Übereinstimmungen in der grundsätzlichen Haltung. Seit 1993 wirkt Zelinka als Geiger im HR-Sinfonieorchester in Frankfurt, und er kennt Zinman auch als Gastdirigent.

«Er ist wie Järvi sehr kollegial und umgänglich», so Zelinka. «Ausserdem hinterfragen beide in ihren Interpretationen grundsätzlich Konventionen, statt ihnen blind zu folgen.» Die Unterschiede sieht Zelinka vor allem in der Probenarbeit, bei der Zinman «manchmal sehr pedantisch» gewesen sei. «In dem Sinn ist Järvi grosszügiger, weil er ein gutes Gespür dafür hat, wann er einfach spielen und gewähren lassen muss. Er lässt mehr los. Auch Zinman kommt aber aus einer kammermusikalischen Grundhaltung. Von daher passt es sehr gut, dass beim Tonhalle-Orchester die Wahl auf Järvi gefallen ist.»

Inwieweit sehen Sie Verbindungen zu Ihrem Vorgänger David Zinman?

Ich bewundere ihn sehr. Er ist ein wunderbarer Dirigent. Generell schätze ich Musiker, die etwas aufbauen. Nur Feuerwerke kreieren und verschwinden, ohne etwas zurückzulassen: Das ist nicht so meine Sache. Ich mag Musiker mit langfristigen Plänen. Wenn sie gehen, verlassen sie den Ort in einer besseren Verfassung. Sie hinterlassen Fussspuren in der Geschichte dieser Institution. Genau dies ist Zinman in Zürich fraglos geglückt. Ich habe alle Aufnahmen von ihm und bin ein Fan seiner Arbeit.

Können Sie darauf aufbauen?

Ich hoffe, dass wir an dieser Grundhaltung wieder anknüpfen können. Jedenfalls ist das kein Bruch, sondern eine gute Grundlage, um andere Perspektiven zu ergründen. Ein Orchester auf ein höheres Niveau zu bringen, erfordert Zeit. Es ist ein langsamer Prozess. Dafür aber fallen nur wenige gute Ensembles auch wieder zurück: Es muss schon etwas sehr Ungesundes in der Kultur und Natur eines Klangkörpers stecken, damit dies passiert. Wer also ernsthaft etwas entwickelt, kann davon ausgehen, dass Dauerhaftes bleibt.

Damit dies gelingt, sieht Geiger Peter Zelinka allerdings auch die Musiker in der Pflicht. Seinen Kollegen vom Tonhalle-Orchester rät er vor allem eines: «Seid offen und aufgeschlossen, schreitet mit Järvi gemeinsam voran! Er fühlt sich dort zu Hause, wo er spürt, dass es Musiker gibt, die es schätzen, mit ihm gemeinsam etwas aufzubauen.» Welches Repertoire in Zürich konkret aufgebaut werden soll, darüber hält sich Järvi bedeckt. Als «Herzstück des Orchesters» betrachtet er jedoch das klassische und romantische deutsche Repertoire. Überdies fühlt er sich der nordischen, russischen und baltischen Musik verbunden, allein wegen seiner Herkunft. Auch das französische Repertoire und die Musik des 20. Jahrhunderts möchte Järvi in Zürich pflegen. Die Chemie scheint zwischen ihm und den Musikern grundsätzlich zu stimmen.

Wie haben Sie das Tonhalle-Orchester bisher erlebt?

Als ich mit ihnen die 3. Sinfonie von Robert Schumann gemacht habe, war ich unglaublich beeindruckt, und zwar nicht nur von der Qualität oder der Präzision, sondern von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Flexibilität. Die Tonhalle-Musiker können Details ungewöhnlich schnell umsetzen oder anders gestalten. Für mich war das in diesem Ausmass unerwartet und sehr positiv. Es geht nicht darum, um jeden Preis risikofreudig zu sein, aber: Sie lieben die Veränderung, sind sehr offen für Neues.

Eine goldene Ära



frm. · Er hat ein besonderes Faible für CD-Aufnahmen – auch das hat Paavo Järvi von seinem Vater Neeme Järvi. Bei Einspielungen sei er ein «wahrer Tüftler», ist von Musikern des HR-Sinfonieorchesters in Frankfurt am Main zu hören. Unzählige Aufnahmen hat er mit diesem Orchester realisiert, und bis heute erscheinen Einspielungen aus dieser Zeit, obwohl Järvi schon seit 2013 nicht mehr in Frankfurt als Chefdirigent wirkt. Was bleibt, sind Dokumente aus einer goldenen Ära. Auf den jüngsten Veröffentlichungen präsentiert sich Järvi als erstklassiger Exeget für die Musik der Moderne: konkret von Paul Hindemith sowie von Anton Webern. Järvi ist der perfekte Anwalt für das Schaffen Hindemiths, er hat ein untrügliches Gespür für den strengen, teilweise neobarocken Formsinn, um zugleich stets einen intimen Lyrismus freizulegen. Für sein Hindemith-Engagement ist Järvi 2012 zu Recht ausgezeichnet worden. Dagegen zeigt das g-Moll-Klavierquartett von Johannes Brahms in Arnold Schönbergs Bearbeitung, wie sehr Järvi mit dem Klischee einer breiten, schweren Klanglichkeit bricht. Bei ihm klingt diese spätromantische Orchester-Schlachtross klar und entschlackt, überaus wach in der Attacke. Dies schlägt eine Brücke zur jüngsten Brahms-Aufnahme (Sony 88985459462), die Järvi mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen vorgelegt hat.

Das HR-Sinfonieorchester unter Paavo Järvi. Paul Hindemith: Sinfonie «Mathis der Maler», Sinfonische Metamorphosen nach Carl Maria von Weber, Fünf Stücke für Streichorchester op. 44 Nr. 4, «Ragtime (wohltemperiert)» op. 26 Nr. 5. Naïve CD 5434 (1 CD).
Johannes Brahms: Klavierquartett Nr. 1 op. 25 (orchestriert von Arnold Schönberg). Anton Webern: Langsamer Satz für Streichorchester. Johann Sebastian Bach: «Fuga (ricercata) a 6 voci aus «Das musikalische Opfer» (orchestriert von Anton Webern). Naïve CD 5447 (1 CD).

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