In jeder Beziehung aufregend
swr.de
9.02.2018
CD
9.02.2018
CD
Titel:Shostakovitch | Symphony No. 6 | Sinfonietta
Interpret:Estonian Festival Orchestra | Paavo Järvi
Label:Alpha Classics 389
Prägende Begegnung mit dem Komponisten
Er zehn Jahre alt, als er 1973 im estnischen Seebad Pernau den Komponisten Dmitri Schostakowitsch kennenlernte: der Dirigent Paavo Järvi, Sohn von Neeme Järvi, Bruder von Kristjan Järvi, Mitglied einer opulenten Musikerdynastie also und heute u. a. Leiter des kleinen feinen Pärnu Music Festivals. Es muss eine prägende Begegnung gewesen sein, damals in den Dünen, Fotos zeigen ein dünnes blondes Bürschchen neben dem dick bebrillten Schostakowitsch. Zwei Jahre später starb der Komponist. Das Engagement Paavo Järvis für seine Musik mag aus dieser authentischen Anschauung her rühren, jedenfalls hat er sich ein Leben lang für den Russen eingesetzt – in der amerikanischen Emigration, in Paris und auch nach 1989, als das Sowjetreich zerbrach, und die Järvis wieder ungehindert in ihre estnische Heimat reisen konnten.
Dringlich und unprätentiös
Die erste CD, die Paavo nun mit dem Estonian Festival Orchestra veröffentlicht, ist Schostakowitsch gewidmet – wem sonst, möchte man fragen? Das Cover zeigt den Dirigenten am weiten Ostseestrand und gibt gleichsam die Antwort auf die Frage, was die Aura eines Ortes mit der Kunst macht, wie sie sie inspiriert und gleichsam auflädt und unverwechselbar werden lässt. So dringlich und so unprätentiös jedenfalls hat Schostakowitschs sechste Sinfonie lange nicht mehr geklungen, bei aller Zeitgeschichte, die hier natürlich auch mitschwingt. Diese Sechste ist formal eher der Rumpf einer Sinfonie als ein abgeschlossenes Werk. Entstanden ist die Sinfonie 1939, die Uraufführung fand im November, zwei Monate nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, in Leningrad statt, wie St. Petersburg damals hieß – ich erwähne das, um die Verschränkungen der Zeitläufte, denen sich ein Künstler wie Schostakowitsch ausgesetzt sah, ins Bewusstsein zu rücken.
Musik von einer Innigkeit und Bekenntnistiefe
Ganz besonders deutlich wird das gut 20 Jahre später in Schostakowitschs achtem Streichquartett, einem autobiografischen Werk, das sein Freund Abram Stasevich später für Streichorchester und Pauke bearbeitet hat. Die Bearbeitung trägt den Titel „Sinfonietta“ und findet sich ebenfalls auf der neuen Järvi-CD. Musik von einer Innigkeit und Bekenntnistiefe, die das Hören regelrecht unbequem machen kann. Weil eine solche Tiefe impliziert, dass das Gegenüber, die Zuhörer, auch etwas zu bekennen haben müssten.
„Sie stehen an der Schwelle einer hoffnungsvollen Zukunft, in der Sie Ihr Schicksal frei und unabhängig bestimmen und lenken können!“ – So heißt es in der estnischen Unabhängigkeitserklärung, die Paavo Järvi im Booklet seiner neuen CD zitiert, natürlich nicht ohne sie auf die Musiker des Estonian Festival Orchestra anzuwenden und auf eine junge Generation, die endlich in Frieden und Freiheit arbeiten und lernen könnte. Ende Februar übrigens feiert Estland das 100-jährige Jubiläum seiner ersten Unabhängigkeit von 1918, die bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1940 währte.
Eine in jeder Beziehung aufregende Neueinspielung.
CD-Tipp vom 9.2.2018 aus der Sendung „SWR2 Treffpunkt – Neue CDs“
Prägende Begegnung mit dem Komponisten
Er zehn Jahre alt, als er 1973 im estnischen Seebad Pernau den Komponisten Dmitri Schostakowitsch kennenlernte: der Dirigent Paavo Järvi, Sohn von Neeme Järvi, Bruder von Kristjan Järvi, Mitglied einer opulenten Musikerdynastie also und heute u. a. Leiter des kleinen feinen Pärnu Music Festivals. Es muss eine prägende Begegnung gewesen sein, damals in den Dünen, Fotos zeigen ein dünnes blondes Bürschchen neben dem dick bebrillten Schostakowitsch. Zwei Jahre später starb der Komponist. Das Engagement Paavo Järvis für seine Musik mag aus dieser authentischen Anschauung her rühren, jedenfalls hat er sich ein Leben lang für den Russen eingesetzt – in der amerikanischen Emigration, in Paris und auch nach 1989, als das Sowjetreich zerbrach, und die Järvis wieder ungehindert in ihre estnische Heimat reisen konnten.
Dringlich und unprätentiös
Die erste CD, die Paavo nun mit dem Estonian Festival Orchestra veröffentlicht, ist Schostakowitsch gewidmet – wem sonst, möchte man fragen? Das Cover zeigt den Dirigenten am weiten Ostseestrand und gibt gleichsam die Antwort auf die Frage, was die Aura eines Ortes mit der Kunst macht, wie sie sie inspiriert und gleichsam auflädt und unverwechselbar werden lässt. So dringlich und so unprätentiös jedenfalls hat Schostakowitschs sechste Sinfonie lange nicht mehr geklungen, bei aller Zeitgeschichte, die hier natürlich auch mitschwingt. Diese Sechste ist formal eher der Rumpf einer Sinfonie als ein abgeschlossenes Werk. Entstanden ist die Sinfonie 1939, die Uraufführung fand im November, zwei Monate nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, in Leningrad statt, wie St. Petersburg damals hieß – ich erwähne das, um die Verschränkungen der Zeitläufte, denen sich ein Künstler wie Schostakowitsch ausgesetzt sah, ins Bewusstsein zu rücken.
Musik von einer Innigkeit und Bekenntnistiefe
Ganz besonders deutlich wird das gut 20 Jahre später in Schostakowitschs achtem Streichquartett, einem autobiografischen Werk, das sein Freund Abram Stasevich später für Streichorchester und Pauke bearbeitet hat. Die Bearbeitung trägt den Titel „Sinfonietta“ und findet sich ebenfalls auf der neuen Järvi-CD. Musik von einer Innigkeit und Bekenntnistiefe, die das Hören regelrecht unbequem machen kann. Weil eine solche Tiefe impliziert, dass das Gegenüber, die Zuhörer, auch etwas zu bekennen haben müssten.
„Sie stehen an der Schwelle einer hoffnungsvollen Zukunft, in der Sie Ihr Schicksal frei und unabhängig bestimmen und lenken können!“ – So heißt es in der estnischen Unabhängigkeitserklärung, die Paavo Järvi im Booklet seiner neuen CD zitiert, natürlich nicht ohne sie auf die Musiker des Estonian Festival Orchestra anzuwenden und auf eine junge Generation, die endlich in Frieden und Freiheit arbeiten und lernen könnte. Ende Februar übrigens feiert Estland das 100-jährige Jubiläum seiner ersten Unabhängigkeit von 1918, die bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1940 währte.
Eine in jeder Beziehung aufregende Neueinspielung.
CD-Tipp vom 9.2.2018 aus der Sendung „SWR2 Treffpunkt – Neue CDs“
Comments