Schönheit ohne Scheu

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Clemens Haustein
11.01.2021

Paavo Järvi dirigiert Franz Schmidt

Die klassische Moderne hat uns ein Misstrauen in die Schönheit vererbt. Deshalb mag Franz Schmidt mit seiner schönheitstrunkenen Musik nach wie vor zu den Komponisten gehören, die entschiedener Plädoyers bedürfen. Es waren stets wenige Dirigenten, die sich mit dem symphonischen Schaffen des 1874 in Pressburg geborenen, später in Wien lebenden Komponisten auseinandersetzten. Neeme Järvi etwa, der mit dem Chicago Symphony Orchestra eine der ersten Gesamteinspielungen der vier Symphonien vornahm. Und Zubin Mehta, der dabei auch seinen Sinn bewies für die Verästelungen der Wiener Musiktradition. Fünfzehn Jahre lang war Franz Schmidt Cellist im Orchester der Hofoper und bei den Wiener Philharmonikern; das Orchester pflegt die Erinnerung an sein früheres Mitglied bis heute. Kürzlich kam Kirill Petrenko hinzu, der Schmidts Vierte bei den Berliner Philharmonikern aufs Programm setzte, kaum dass er zum neuen Chefdirigenten gewählt worden war.

Und nun Paavo Järvi mit dem Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks, dessen Chef er von 2006 bis 2013 war. Aus dem letzten Jahr seiner Amtszeit datiert die Einspielung der zweiten Symphonie, die übrigen drei Symphonien wurden in den folgenden Jahren live mitgeschnitten: Nachschwingungen der äußerst fruchtbaren Zusammenarbeit während Järvis Frankfurter Jahren.

Kraft und Stabilität verbinden sich mit Lust und Klangsinnlichkeit. Für Schmidts Musik sind die Beteiligten damit bestens gerüstet: Man verliert sich nicht in der Pracht, die die Partituren des Komponisten bereithalten, und muss dafür nicht einmal die Atmosphäre herunterkühlen, wie es noch Paavo Järvis Vater Neeme in Chicago mit eiliger Geradlinigkeit tat. Schmidt, das bestätigt die neue Aufnahme, war ein Könner in vielfacher Hinsicht. Sein Orchestersatz ist von perfekt berechneter Statik, gebaut auf ein sicheres Bassfundament, in die Höhe verästelt er sich in feinste Bläserlinien. Darin zeigt sich nicht nur die praktische Erfahrung des Orchestermusikers Schmidt, sondern auch der Horizont des Pianisten und Organisten Franz Schmidt. Kontrapunktische Komplexität zeigen seine Symphonien ebenso, wie sie den sicheren Umgang mit der großen Form bezeugen. Wenn sich im Variationssatz der zweiten Symphonie plötzlich und „sehr leidenschaftlich“ eine ekstatische Kantabilität Bahn bricht, eingeleitet von einem Signal des Tamtams, beglänzt von Hörnern, die wie im Taumel in höchste Höhen aufsteigen, dann verpasst es Schmidt nicht, nachträglich noch einmal die Außerordentlichkeit dieses Ereignisses zu bestätigen. Er zitiert diese achte Variation im letzten Satz zum triumphalen Schluss.

Überhaupt fällt in der Zusammenschau der vier Symphonien Schmidts kreativer Umgang mit der traditionellen Form auf: die Verbindung mit der barocken Suite etwa, wie sie in der ersten Symphonie im ouvertürenhaften Beginn des ersten Satzes und im verspielten Anfang des Schlusssatzes zum Ausdruck kommt. In der zweiten Symphonie verschmilzt Schmidt kunstvoll den langsamen Satz mit dem Scherzo, in der vierten entfallen alle Satzpausen. Das Werk kommt und geht, von einem nackten Trompetensolo aus der Ferne geholt und am Ende wieder in die Ferne entlassen.

Hier, in der Vierten, die Franz Schmidt nach dem Tod seiner Tochter schrieb, deutet sich auch eine Gebrochenheit an, die die vorangegangenen Symphonien kaum zeigen. Dem an der Musik Gustav Mahlers geschulten Hörer wird die existentielle Dringlichkeit abgehen, wenn im Kopfsatz der Zweiten (komponiert 1913) ein Marschthema erscheint in deutlicher Nachfolge Mahlers. Das triumphale Gehabe dieses Marsches bleibt unhinterfragt. Und wer sich bei Schmidts Musik an Richard Strauss erinnert fühlt, wird womöglich die intelligente Überlegenheit vermissen, die er von Strauss gewohnt ist. Schmidt ist ein Schönheitssüchtiger, der mit aparten Harmonien spielt, entwaffnend offen den Effekt sucht, wenn er atonal anmutende Klangvernebelungen einsetzt zur Schattierung seiner Instrumentation, und der ein durchaus gesundes Pathos ebenso liebt wie die dekorative Geste. Dass er in seinen letzten Jahren auch für die Nationalsozialisten interessant wurde, gehört zur Tragik seines Lebenslaufs. Könnerschaft und Schönheiten seiner Musik aber lohnen die Entdeckung. Paavo Järvi und das hr-Sinfonieorchester helfen dabei.

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