Paavo Järvi: „Glatzköpfige Dirigenten sind besser“
Rondo Magazin
Robert Fraunholzer
RONDO Ausgabe 6 / 2020
RONDO: Herr Järvi, wodurch zeichnet sich für Sie eine gute Tschaikowski-Interpretation aus?
Paavo Järvi: Das ist eine große Frage. Meine Ansicht dazu hat sich drastisch verändert. Die Modell-Deutungen der Sinfonien von Tschaikowski stammen, wie Sie vielleicht wissen, von dem großen Dirigenten Jewgeni Mrawinski. Bei ihm kam alles darauf an, sehr gut zu strukturieren und nicht zu viele Gefühle hochkochen zu lassen. Man fürchtete Sentimentalität. Mich ermüdet dieses Dogma. Schließlich stammte Mrawinski, bei dem noch Mariss Jansons gelernt hat, aus der härtesten Stalin-Zeit. Man hatte immer einen Koffer hinter der Tür, für den Fall, dass man fliehen müsse. Wir sollten Tschaikowski neu denken.
RONDO: Wie sieht Ihr neuer Tschaikowski aus?
Järvi: Weniger strikt. Er verträgt, wie ich glaube, etwas mehr Sentimentalität. Denn er ist russischer als wir denken, insofern als er – ganz so wie die russischen Romanautoren – ein großer Erzähler war. Man soll die Nähe zu Tolstoi und Dostojewski wieder hören! Sie waren nur wenig älter. Übrigens, wer mich zu Tschaikowski zurückbrachte, war der späte Bernstein. Bei ihm hat es an Gefühlen nie gefehlt.
RONDO: Warum beginnen Sie Ihre Arbeit beim Tonhalle-Orchester russisch?
Järvi: Weil man, wie bei allen Zyklen, vor allem eines braucht: Zeit. Also muss man, bei großen Baustellen, früh genug anfangen. Ich habe auf ein Orchester dieser Qualität gewartet, um Tschaikowski in Angriff zu nehmen. Wir wollen Dinge tun, die mein wichtigster Vorgänger, David Zinman, nicht so oft gemacht hat.
RONDO: Was wollen Sie mit dem Tonhalle-Orchester erreichen?
Järvi: Das Tonhalle-Orchester ist eines jener Spitzenensembles, die zwar jeder kennt, aber von denen kaum einer weiß, wie gut es ist. Ich kannte es von CDs, vor allem durch Zinman. Ich habe inzwischen so ziemlich alle großen Orchester weltweit dirigiert. Es gibt Städte wie etwa Amsterdam oder Leipzig, bei denen man sofort an das dortige Orchester denkt. Das ist genau, was ich für Zürich erreichen will.
RONDO: Der wichtigste Körperteil eines Dirigenten, so haben Sie einmal geäußert, sei der Rücken. Würde das nicht bedeuten, dass Sie vor allem für das Publikum da sind?
Järvi: Absolut, und deswegen war die Antwort auch nur ein Scherz. Ich gebe zu, dass ich bei Leonard Bernstein sofort an den rollenden Rücken und an die Schultern denken muss. Wichtiger noch sind für jeden Dirigenten: die Augen. Ich habe Karajan nie verstanden, dass er sie beim Dirigieren schloss. Die Augen sind das, wodurch ein Dirigent mit dem Orchester intim verbunden ist. Viel wichtiger als die Hände.
RONDO: Was machen Sie dann, wenn die Musiker nicht schauen?
Järvi: Wenn Musiker nicht hinschauen, hat das fast immer mit dem Chefdirigenten zu tun. Sie trauen sich nicht hinzuschauen, weil sie fürchten ‚rauszukommen‘. Ich brauche, wenn ich vor ein neues Orchester trete, genau zwei Minuten, um herauszufinden, wie gut der Chef ist. Was tut man also, wenn sie wegschauen? Man fängt an zu reden. Und versucht Vertrauen zu bilden. Man fragt: Glauben Sie nicht, dass wir durch Augenkontakt besser verbunden wären?
RONDO: Ihr Beethoven-Zyklus mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen galt, als er vor über zehn Jahren erschien, als Sensation. Heute, wo der Zyklus in einer Box erscheint, gibt es weit mehr Kammerorchester, die Beethoven spielen?!
Järvi: Nachdem ich es mich jahrelang nicht getraute, habe ich kürzlich noch einmal reingehört in diesen Zyklus, und war erstaunt, wie frisch er klingt. Das ist das Entscheidende. Deswegen bin ich in Bezug auf den Vergleich mit jüngeren Zyklen ohne Sorgen. Die ‚Test-Sinfonie‘ ist übrigens immer die Eroica. Als Box waren alle Neune bislang nur in Japan erhältlich, nicht bei uns. Außerdem sind jetzt auch die Ouvertüren mit dabei. Ich glaube, die Aufnahme hat ihren Platz gefunden. Und wird bleiben.
RONDO: Sie selber werden in Bremen auch für immer bleiben?
Järvi: Ich hoffe es. Nach 25 Jahren, davon 15 als künstlerischer Leiter, ist das natürlich schwer vorauszusagen. Der Vertrag immerhin erneuert sich von selbst. Wir gehören zusammen und wenden uns aktuell den Sinfonien von Joseph Haydn zu. Was kann es Schöneres geben!?
RONDO: Sie haben früher einmal behauptet, der Unterschied zwischen der Kammerphilharmonie und einem traditionellen Orchester bestehe darin, dass Sie die Kammerphilharmonie nicht dirigieren müssen!
Järvi: Das war vielleicht etwas selbstlos ausgedrückt. Aber tatsächlich ist es so, dass die Kammerphilharmonie derart gut ist, dass ich mich ganz aufs Gestalten konzentrieren kann. Technisch gesehen sind sie selbständig.
RONDO: Wie verändert man den Klang eines Orchesters? Oder wollen Sie das nicht?
Järvi: Gute Orchester bringen immer bereits einen spezifischen Klang mit. Und was wichtiger ist: Sie werden ihn nie verlieren. Unter ganz schlechten Dirigenten kann man den Klang vielleicht manchmal nicht wiedererkennen. Das Orchester wird sich davon aber rasch wieder erholen. Als ich Chefdirigent beim Cincinnati Symphony Orchestra war, empfand ich das Orchester zwar als sehr gut, wünschte mir aber mehr ‚Fleisch‘ in den Streichern und weniger Brillanz bei den Bläsern. Bei den Londoner Orchestern, um ein anderes Beispiel zu nennen, sind die Streicher vorzüglich, aber bisweilen ziemlich uniform. Ich kann nur sagen: Es ist sehr viel Arbeit, daran etwas zu drehen.
RONDO: Bei der Deutschen Grammophon erschien kürzlich Ihr Zyklus mit den vier Sinfonien von Franz Schmidt. Bislang gab es nur eine Gesamteinspielung mit Ihrem Vater, Neeme Järvi. Da wird der aber sauer sein!
Järvi: Ganz im Gegenteil. Er wird glauben, dass die Saat aufgegangen ist. Und das stimmt ja auch. Ich kenne vieles, auch die Werke von Max Reger, Alexander Glasunow oder Hans Rott, hauptsächlich durch meinen Vater. Er ist der Chefausgräber der Familie. Zu Weihnachten wird er mir überglücklich in die Arme fallen. Und mir gleich 100 neue Aufträge erteilen.
RONDO: Ziehen Sie demnächst von London nach Zürich um?
Järvi: Wenn wir im nächsten Jahr in die renovierte Tonhalle zurückkehren, könnte ich mir das schon vorstellen. Einstweilen wohne ich in Zürich noch im Hotel. Es gibt dort sehr schöne Hotels. Sie sind gegenwärtig nicht überbucht.
RONDO: Sie sind einer der wenigen Dirigenten, die auch ohne Haare großen Erfolg haben. Machen wenig Haare den Beruf schwieriger? Oder ist die Frage unsinnig?
Järvi: Zunächst einmal: Diese Schlacht habe ich vor vielen Jahren bereits verloren. Dirigentisch gesehen: kein sehr großer Unterschied. Mir kommt es eher so vor, als wenn ich seitdem über mehr Gesicht verfüge. In der Vergangenheit gab es eine ganze Reihe glatzköpfiger Dirigenten, die vorzüglich waren. Zum Beispiel Erich Leinsdorf.
RONDO: Ebenso Georg Solti und Dmitri Mitropoulos.
Järvi: Sie haben sich durch fehlende Haare nicht irritieren lassen. Und auch das Publikum nicht verwirrt.
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