Grossartig verrückt. Seit einem Jahr ist Paavo Järvi Chefdirigent des Zürcher Tonhalle-Orchesters. Er hat eine kühne Vision.

Klassik
Christian Berzins

Paavo Järvi/Tonhalle-Orchester Zürich:
Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 5 u.a.,
Alpha Classics 2020.



Über Paavo Järvis Vorgänger beim Tonhalle-Orchester gab es kein einziges Gerücht – weder ein gutes noch ein schlechtes. Über Järvi, seit Herbst 2019 Chefdirigent des Orchesters, kursieren hingegen zahlreiche schlechte. Dass er aussieht wie Wladimir Putin, macht die Sache nicht besser. Aus gerechnet er, der Este, dessen Heimat von 1944 bis 1991 von den Russen besetzt war.

Bei jedem Gespräch seit 2017 habe ich mich mit Järvi darüber unterhalten. Er wusste, dass der Kritiker mit dem lettischen Nachnamen das tun würde, sprach vorsichtig – und doch sehr klar. Aber der 57-jährige Järvi redete nicht böse gegen Russland, sondern blumig für Estland: «Es gilt, die estnische Souveränität und die estnische Kultur zu bewahren, aber ‹bewahren› bedeutet nicht nur, gegen etwas zu sein, sondern auch, etwas zu etablieren. 1991 war hier alles zerstört: die schmucken Holzhäuser, die breiten Strassen und sogar die Mentalität der Menschen. Das war das Resultat des Sowjetsystems. Deswegen wollte ich hier etwas Neues schaffen.» Als Estland von den Sowjets befreit war, beantragte Järvi den estnischen Pass; die Steuerresidenz blieb Palm Beach, Florida.

Immer entschlossen

Mit Paavo Järvi zu sprechen, heisst auch, zu pokern. Beim vorletzten Treffen hatte er mit geradezu spitzbübischer Freude auf meine Frage gewartet. «Warum spielen Sie Messiaen ein zum Amtsantritt in Zürich?» Genüsslich cool sagte er: «Weil ich Fan von Olivier Messiaen bin. Ich habe keine ungemein tiefgründige philosophische Erklärung dafür, aber diese Musik ist einfach toll, wird viel zu selten aufgeführt.» Und er fuhr fort: «Was passiert, wenn ein Dirigent zu einem Deutschschweizer Orchester kommt? Er spielt die Sinfonien von Mahler, Bruckner oder Brahms ein. Ich wollte es anders machen, das Zürcher Publikum überraschen.» Dass sich Messiaen nicht einfach verkauft, ist ihm auch egal: «Die künstlerischen Aspekte sollten nicht vom Marketing gelenkt werden. Wir Künstler machen etwas, dann soll es jemand verkaufen. Das ist mein Weg.»

Die Tonhalle-Marketingabteilung liebt den Esten noch mehr, als es Intendantin Ilona Schmiel tut. Wo und wann immer der Dirigent in ein Mikrofon oder eine Kamera sprechen soll, ist er parat. Das erstaunt, denn im Vergleich zu einem Simon Rattle sei Järvi ein zurückhaltender, ja konservativer Mensch, sagen seine Freunde. Järvi brauche ein Team, eine starke Kommunikationsabteilung. Er sei nicht derjenige, der mit grossen Innovationen komme, OrchesteProjekte mit einem DJ wie einst in Frankfurt hin oder her. Er spricht – offiziell – auch kein Deutsch, obwohl er jahrelang mit deutschen Orchestern gearbeitet hat.

Wenn die Zürcher und Zürcherinnen ihren Chefdirigenten verstehen wollen, müssen sie aber zuerst akzeptieren, dass er verrückt ist. Grossartig verrückt! Um es zu merken, muss man im Sommer nach Pärnu reisen. Im hübschen Kaff mit Bäderhotels, farbigen Holzhäusern und drei hässlichen Einkaufszentren machte er aus einem unbedeutenden sowjetischen Festival ein einzigartiges estnisches. 

Järvi steht während acht Festivaltagen fünf Abende auf dem Podium. Daneben leitet er stundenlange Dirigenten-Workshops, ist bereit für einen Nacht-Talk auf dem Podium. Fundament des Festivals ist sein Orchester, das innerhalb von zehn Jahren zu einem TopKlangkörper reifte. Der Durchlauf zur Weltspitze ist umso erstaunlicher, als diese Gemeinschaft bloss zehn Tage in Pärnu und auf einer dem Festival folgenden Tournee existiert.

Das Modell kennen wir aus Luzern. Dort hat man um Claudio Abbado herum im Jahr 2003 das Lucerne Festival Orchestra geschaffen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung behauptete im Sommer 2020 keck, dass Järvis Orchester das Niveau habe, wie es das Luzerner unter der Leitung Abbados einmal hatte. Hatte ... Im Unterschied zu Abbados Orchestergründung hat Järvi nicht einfach den Ort mit den besten Bedingungen (und Top-Gagen) dafür ausgewählt, sondern das Gegenteil. Der Enthusiasmus und die Liebe zur Musik machen alles wett.

Die Frage, warum diese Musiker von weit her kommen und im Festspielorchester mittun, beantworten alle gleich: «Wegen Paavo!» Järvi weiss, wie gut seine Musiker sind: «Die Mittel sind viel kleiner als unsere Ambitionen. Aber haben Sie gehört, wie das Orchester klingt? Besser als viele mit grossen Namen.» In seinen Worten steckt kein Stolz, sondern estnische Nüchternheit. Dieser Mann wirkt immer entschlossen. Als einst beim Open-Air-Gastspiel im lettischen Jurmala jemand zu früh applaudierte, wehrte er sich verärgert dagegen, gab aber am Schluss jovial das Zeichen zum Applaus.

Da hatte Järvi am sechsten Festivaltag im Sommer 2020 Mendelssohns 1. Sinfonie so stürmisch belebt, dass sie klang wie vier «Italienische» zusammen. Und schon stand er entspannt auf dem Balkon des Konzertsaals, um mit dem Kulturminister zu plaudern. Keine fünfzehn Minuten später tauchte er im T-Shirt beim Empfang an der Bar auf und schmunzelte ob des Lobs, das von allen Seiten auf ihn niederprasselte. Wer um 1.30 Uhr nach Hause ging, gehörte zu den Ersten. Ob man getanzt habe, wurden wir am nächsten Morgen gefragt. Und nicht mal ins Meer schwimmen sei man gegangen?! Wir verkniffen uns die Gegenfrage: «Und um 10 Uhr zur Probe?», denn wir hatten schnell gelernt, dass in Pärnu eine Frage tabu ist: «Wann schläft ihr?». Grinsend meint Järvi: «Wir schaffen uns hier unsere eigenen Regeln. Das ist eine Sache für Fanatiker und Enthusiasten, hier ist keiner, um Geld zu machen.»

Furiose Aufführungen Jemand mit einem solchen Geist hat dem Tonhalle-Orchester Zürich bisher gefehlt. Gefragt, ob denn die Zürcher dereinst unter den Top Ten der Welt figurieren könnten, sagte mir Järvi beim ersten langen Gespräch im Sommer 2017 trocken: «Das werden sie – gar keine Frage. Wir haben eine Vision. Wir müssen gross denken – und langfristig. Aber es geht nicht nur ums Spielen, sondern auch ums Präsentieren.»

Die ersten Begegnungen mit dem Tonhalle-Orchester waren für beide Seiten elektrisierend. Der Este sagte dazu: «Es ging nicht darum, ob dieses recht oder jenes falsch sei – das ist wichtig, aber nicht alles: Diese Musiker wollten zum Kern. Man muss in der Musik eine innere Welt finden. Das war cool! Wir konnten Musik machen, ohne Akademismus. Das Fundament ist sehr stark. Ich will an einer Tradition bauen. Das Wichtigste ist, dass wir uns im Musikalischen verstehen. Wenn das klappt, wird alles andere klappen, wenn nicht, wird alle PR nichts nützen.» Der ehrgeizige Järvi weiss, dass in Zürich viel zu erreichen ist. Sosehr er die Tonhalle Maag liebt, so sehr sehnt er sich nach der Wiedereröffnung der alten, renovierten Tonhalle.

Järvi ist jener Dirigent, der nicht nur die Zeit mit Vorgänger Lionel Bringuier (Jahrgang 1986) in wenigen Monaten vergessen machte, sondern auch die verklärten Jahre mit David Zinman (Jahrgang 1936) überflügeln wird. Järvis Schwärmen über das Tonhalle-Orchester ist keine Schmeichelei. Er weiss: Zürich kann auch ihm zu einem weiteren Karriereschub verhelfen.

Im Tonhalle-Orchester war nach den ersten Konzerten ein enormer Enthusiasmus zu spüren. Järvi wie Musiker waren bereit für Grosses, viele furiose Aufführungen haben es gezeigt: Schon 2017 auf China-Tournee triumphierte man mit Mahlers 5. Sinfonie. Doch der Enthusiasmus hat nicht nachgelassen, sondern zugenommen. Wie gelöst und zielgerichtet erklang doch beim letzten Zürcher Konzert vordem erneuten Kultur-Lockdown am 22. Oktober 2020 Mozarts 39. Sinfonie!

Corona machte viele Pläne zunichte. Die Aufnahmen der Tschaikowsky-Sinfonien wurden unterbrochen, statt einer Box ist bisher nur eine einzige CD erschienen. Aber die ist grossartig.

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