Bad Kissingen: Emotion, Dramatik und Virtuosität

inFranken
27.06.2021
Thomas Ahnert

Die "Romantischen Höhenflüge" waren vorerst das letzte Konzert der Bremer Kammerphilharmonie in Bad Kissingen.



War's das dann? Waren die "Romantischen Höhenflüge" wirklich das letzte Konzert der Bremer Kammerphilharmonie beim Kissinger Sommer? Ist die Amtszeit des Festivalorchesters aus dem hohen deutschen Norden damit wirklich beendet? Und dann auch noch derart formlos?

Man hätte es ja auf dem Schirm haben können. Als es 2017 dem damals neuen Intendanten Tilman Schlömp gelungen war, die Bremer für fünf Jahre als Festivalorchester an den Kissinger Sommer zu binden, da war das durchaus eine Sensation. Zumindest außerhalb der Stadt, im Rest der Welt, wurde das so gesehen. In Bad Kissingen saßen noch die Zweifler: Ein Orchester, das man hier überhaupt nicht kennt, und dann auch noch ein Kammerorchester! Lohnt sich das überhaupt, da hinzugehen? Und wenn die jetzt nichts sind, dann haben wir sie fünf Jahre am Hals. Da war Zurückhaltung angesagt.

Aber die Charmeoffensive der Bremer funktionierte schnell und gründlich. Nicht nur durch ihre Präsenz im Stadtbild - nicht nur bei den "Schnitzeljagden" - sondern vor allem, weil sich vor den Kissingern noch nie ein ganzes Orchester am Ende eines Konzerts verbeugt hatte. Beim ersten Mal wurde noch ein bisschen gelacht. Beim nächsten Mal fühlte man sich schon ein bisschen geschmeichelt. Und dann hatten sich wohl auch die hartleibigsten Zweifler überzeugen lassen, dass da wirklich gute, lustvolle Musik gemacht wurde. Und plötzlich war das Orchester Kult, waren das "unsere Bremer".

Drei Jahre hat diese Allianz bestens funktioniert. Im letzten Jahr hat uns Corona diese Begegnungen, auf die wir uns so gefreut hatten, schlicht und einfach gestohlen. Und in diesem Jahr reichte es aus allerlei Corona-Gründen auch nur für ein Konzert. Dass das aus Hygienegründen zweimal gespielt wurde, um nicht so viele Fans enttäuschen zu müssen, spielt da keine Rolle. Die fünf nicht gespielten Konzerte der beiden letzten Jahre werden uns fehlen.

Beethoven statt Brahms


Und dann musste auch noch - letztlich auch dank Corona - das Programm geändert werden. Statt Johannes Brahms' 1. Klavierkonzert gab es Ludwig van Beethovens 4. Klavierkonzert. Wirklich enttäuscht darüber werden nur die eingefleischten Brahmsianer sein. Denn einen besseren Ersatz hätte es kaum geben können, und die Bremer und Igor Levit betrieben damit eine Art Ehrenrettung für das Thema des Abends: Denn Beethovens G-dur-Konzert gilt als weit geöffnetes Tor zur Romantik. Und ist somit Brahms ungemein nahe. Man merkt es nur nicht immer, wenn es gespielt wird.

Mit Paavo Järvi und Igor Levit hatten sich zwei gefunden, die in der romantischen Auslegung des Konzerts perfekt übereinstimmten und die in seltener Deutlichkeit klar machten, warum das Konzert zu Recht in diesen Ruf geraten ist. Schon die allerersten Takte machten deutlich, dass die Musik hier nicht mehr einen (vordergründigen) Unterhaltungsanspruch bedient, sondern dass sie sich in die Subjektivität - fast möchte man sagen: vom Publikum verabschiedet hat.

Es war für Beethovens Zuhörer je schon ungewöhnlich, dass das Klavier mit einem Solo beginnt. Aber Igor Levit spielte diese Einleitung auch so verinnerlicht, als wäre er allein, als würde er sich behutsam in die Musik hineintasten.

Und das Überraschende war: Das Orchester setzte, als das Klavier wieder schwieg, genauso leise, verinnerlicht, subjektiv ein, bis sich beide fanden und geradezu wie befreit gemeinsam aufspielen konnten.Wobei dieses "gemeinsam" - ganz im Sinne Brahms" - die Struktur des Konzerts prägte: Das Klavier ist nicht mehr Gegenspieler, sondern wird zu einem integrierten Teil des Ganzen. Da zeigte sich die Fähigkeit von Igor Levit und den Bremern, genau aufeinander zu hören.

Da zeigte sich, was der Namenszusatz "Kammer" bedeutet: dass jeder einzelne Musiker nicht nur mit dem Orchester spielt, sondern auch mit dem Solisten. Und so konnte Paavo Järvi seine Konzepte der bedingungslosen Klarheit, der Gewichtung jeder einzelnen Stimme und der spannenden Gestaltung mit starken Kontrasten präzise und bezwingend umsetzen. Da konnte man ein altbekanntes Konzert wirklich neu hören.

Aus dem Rahmen gefallen

Eigentlich hatte das Konzert zwei Höhepunkte. Da war zum einen die Kadenz des ersten Satzes, die völlig aus dem Rahmen des Üblichen fiel, auch wenn sie von Beethoven stammte. Normalerweise werden Kadenzen wie Füllstoff behandelt, mit dem die Solisten im besten Fall ihre Virtuosität beweisen können. Aber in dieser Kadenz war so viele Levit drin, dass man sie kaum erkannt hätte, soviel subjektive Emotion, soviel Dramatik, dass man natürlich die Virtuosität erkannte, aber auch die Person, die sie entfaltete.

Und da war der gesamte zweite Satz. Den gestalteten Paavo Järvi und Igor Levit als einen derart intensiv fragenden Dialog, dass man als Zuhörer fast ungeduldig wurde, weil eine Lösung immer dringender hermusste. Die kam dann auch, nach einer ganz kurzen Zäsur und wie aus dem Nichts in Gestalt des dritten Satzes, des kontrastierend extrovertierten Finalrondos. Der ganze Andante-Satz hatte diesen einen Augenblick vorbereitet. Spannender geht"s nicht. Als Zugabe spielte Igor Levit Schumann: "Der Dichter spricht", der Abschiedssatz aus den "Kinderszenen". 

Auf den Putz gehauen

Der Kontrast hätte nicht größer sein können: Denn als zweiten Gang servierten Paavo Järvi und die Bremer Igor Strawinskys Suite aus dem Ballett "Pulcinella". Da konnte das Orchester in die Vollen gehen, konnte mal so richtig auf den Putz hauen.

Über die musikhandwerklichen Kompetenzen der Bremer muss man kein Wort mehr verlieren. Es machte einfach großen Spaß, sich von dieser Musik überfallen zu lassen, weil sie mit einem Druck und in einer Klarheit kam, die zeigten, welch starke Fantasie Strawinsky hatte, wie er mit Klangfarben und komplizierten Rhythmen arbeitete und wie er lustvoll Humor in Klänge fasste.

Da wurde sogar im Saal immer mal laut gelacht! Selbst Paavo Järvi, der Stoiker, musste gelegentlich grinsen, wenn wieder mal die saftigen Glissandi erklangen. Und dann: stürmischer Beifall, viele Bravorufe. Aber das war's noch nicht ganz: Es kam noch eine Zugabe: Beethovens Ouvertüre zu "Die Geschöpfe des Prometheus". Schon die drei Explosionsakkorde zu Beginn machten klar, dass da Eingemachtes verhandelt wird.

Das war's dann wirklich: Verbeugung, Abgang, Licht aus! Ob die Bremer Geschichte weitergeht, ist jetzt Sache der Bremer und des neuen Intendanten. Jetzt heißt's abwarten.


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