CONCERT REVIEW: Gautier Capuçon and Paavo in Frankfurt
Weg zum perfekten Orchesterklang Paavo Järvi dirigiert Gustav Mahlers "Todtenfeier" Der Blick in die Werkstatt eines Tonsetzers kann peinlich anrührend, aber auchsehr erhellend sein. Auf diese Weise nämlich werden Details offenkundig, die auch Veränderungen der Denkweise im Lauf der Jahre dokumentieren. Im Fall der Sinfonie Nr. 4 d-Moll op. 120 von Schumann kommt die formal leichtgeglättete, zehn Jahre später konzipierte Zweitfassung in einem derart veränderten Klanggewand daher, dass es gute Gründe gibt, die weit frischere Urversionvorzuziehen. Bruckner selbst hat bei den Bearbeitungen seiner Sinfonien sotiefgreifend die kompositorische Substanz verändert, dass die einzelnen Fassungenziemlich autonom nebeneinander existieren. Im Fall Mendelssohns, dessen überarbeitete Sinfonie Nr. 4 A Dur op. 90 eher Geschmackssache sein dürfte, wird zumindest klar, dass es immer auch mehrere Wege zum Ziel gibt. Brahms hingegen, der aus wenig spektakulär anmutenden Themen große Kunstgebilde schuf, wollte solche Einblicke nicht gewähren. Dass er in Wiesbaden an seiner Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90 arbeitete, hat er selbst Freunden in Rüdesheim, wo noch heute ein für Spaziergänger interessanter Brahms-Weg an die hohen Besuche erinnert, verschwiegen. Mahler hingegen war gewohnt, schon veröffentliche Werke auf Klangver besserungen und strukturelle Optimierung hin zu überprüfen. Jede seiner Sinfonien war für ihn auch ein "work in progress". Beim "Freitagskonzert" des hr-Sinfonieorchesters ließ sich ein spannender Kompositions prozess dieser Artnachvollziehen. Denn die 1888 komponierte, später auch separat veröffentliche"Todtenfeier" ist die Urform des erst sechs Jahre später in Angriff genommenen Kopfsatzes seiner "Auferstehungs-Sinfonie". Wie Chefdirigent Paavo Järvi in seiner ungemein klaren, klangscharfen, nie auf bloßes Pathos vertrauenden Wiedergabe zeigte, ist auch die Urform dieser Musik schon ein profiliert ausgreifendes Werk, vordem einst selbst ein Mahler-Freund wie Hans von Bülow mit den Worten zurückzuckte, im Vergleich zu diesem Stück wirke Wagners "Tristan" wie eine Haydn-Sinfonie. Heute allerdings hat sich die Musikwelt an ganz andere Offenbarungen gewöhnen müssen. "Todtenfeier" ist in dieser Version einesinfonische Dichtung, deren Länge das spätere Sinfonie-Pendant noch übersteigt. Wer Mahlers zweite Sinfonie im Ohr hatte, konnte anhand "unbekannter" Partien leicht bemerken, dass er seinen Satz später um einige Melodiepassagenund ausgeklügelte harmonische Wendungen gestrafft, seine Musik jedochdynamisch noch wesentlich geschärft hat. Dank Järvis Einsatz für diese Frühformwar ein interessanter Vergleich möglich, doch dürfte die Spätversion,die in Mahlers Sinfonie Nr. 2 c-Moll eingeflossen ist, das letztendlich wirkungsvollere Klangstück sein. Brahms' Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90 wirkt dagegen recht konzis, weil der Komponist eine melancholisch und expressiv aufgeladene Grundstimmung in eine ziemlich knappe Form gedrängthat. Die Musik wirkt immer ein wenig explosions gefährdet, erst am Ende sinktsie ermattet zurück: Wie am Schluss der großen Klaviersonate h-Moll von Lisztscheint das Material erschöpft. Paavo Järvi vermochte dies zu verdeutlichen, indem er sich nicht auf den Gefühlsüberdruck der Musik beschränkte, sonderndurch seine souveräne Interpretation ein Werk nachzeichnete, bei dessenkunstvoller Verarbeitung keine Note zu viel komponiert scheint, sämtliche Ausdrucksmittel und Klangeinstellungen organisch auseinander hervorgehen. Zum Schwelgen und Genießen taugte diese Sicht nicht unbedingt - dafür standim Zentrum des Abends jedoch Gautier Capuçons himmlische Wiedergabe des Konzerts für Violoncello und Orchester h-Moll op. 104 von Antonín Dvorák. Der Franzose ist dafür der optimale Künstler: große Geste, großer, warmer, runder Ton, absolute Intonations reinheit. Der Beifall war gewaltig, eineamüsante Zugabe war der "Marsch der kleinen Soldaten" von Prokofieff.
HARALD BUDWEG © 2008 PMG Presse-Monitor GmbH
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