Weniger ist mehr


Kultiversum - Die Kulturplattform
Das Gespräch führte Arnt Cobbers.

Paavo Järvi und die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen sind in Berlin, um ihre vierte Beet­hoven-CD aufzunehmen – wieder im legendären Großen Saal an der Nalepastraße. Die Stimmung ist konzentriert, doch unverkrampft – genau die Mischung, die man den Aufnahmen anhört. In der Mittagspause „entspannt“ sich Järvi beim Interview, dann geht‘s an die Einspielung des zweiten Satzes.

Herr Järvi, Ihr Beethoven klingt mit der Kammerphilharmonie so einfach und natürlich. Was ist das Geheimnis?
Für mich ist Beethoven der echte Test für einen Dirigenten. Man muss sich wirklich darüber im Klaren sein, was man will. Und man braucht ein sehr gutes Orchester. Wir machen die Symphonien jetzt seit zehn Jahren zusammen, wir haben viele Zyklen gespielt, aber jedes Mal, wenn wir auf Tour gehen, proben wir, als hätten wir die Stücke nie gesehen. Erst dann wird es zur zweiten Natur. Und das ist ja so eindrucksvoll mit diesem Orchester, sie unterbrechen die Proben oft und sagen: Gut, die Details sind klar, aber jetzt lasst uns mehr auf das Ganze achten, lasst uns mehr Spaß haben. Nehmen Sie dieses (singt) pam pa da damm pamm usw. – wenn das nicht technisch absolut ausgearbeitet ist, dann funktioniert es nicht. Aber wenn es absolut ausgearbeitet ist, dann hört man’s nicht mehr. Aber man fühlt es, es klingt richtig. Wir arbeiten viel an Sachen, die man später nicht mehr wirklich hört. (lacht) Und genau das muss man tun.

Waren Sie von Kindheit an ein Beethoven-Fan?
Meine Liebe zu Beethoven ist nicht sofort aufgeblüht. Mein Vater hatte eine der größten Plattensammlungen in der Sowjetunion, und er hat oft Platten aufgelegt und gefragt: Wer dirigiert, welches Orchester? Ich bin aufgewachsen mit der Geschichte des Dirigierens, mit der Kenntnis der Tradition. Beethoven klang mir oft sehr dramatisch, pompös, mir fehlte das innere Leben, etwas störte mich an der Art, wie man ihn seit Wagner gesehen hat. Erst als ich die Kammerphil­harmonie Beethoven spielen gehört habe, hab ich gesagt: Das ist es! So muss man Beethoven spielen.

Da ist mehr Transparenz, es gibt eine Schönheit in der Einfachheit, es muss nicht alles schön „gemacht“ werden. Manchmal ist es so: Je einfacher die Linien, je aufrichtiger die Geste, desto berührender ist es. Und das hat nur mit dem Orchester zu tun. Es hat etwas damit zu tun, dass man sich als Gruppe einig ist darin, wie man Musik und besonders diese Musik hört. Ich war sehr glücklich, als ich sie vor zehn Jahren als Gastdirigent entdeckt habe, und seitdem haben wir in jedem unserer Konzerte Beet-hoven gespielt – und wir haben eine Menge Konzerte gegeben. Da rückt man natürlich immer näher zusammen, das ist ein Geben und Nehmen. Bei einem großen Orchester muss man mehr geben, das liegt in der Natur der Organisation. Hier dagegen bin ich viel mehr Teil der Gruppe. Dann kommt die Aufführung, und da braucht das Orchester jemanden, der die Impulse gibt, sonst funktioniert es nicht. Dirigieren als Beruf ist ein sehr fragwürdiges Unternehmen. (lacht) Es ist nicht so ganz klar, was der Dirigent tut. Aber man merkt sofort, wenn er nicht genug tut.

Warum dirigieren Sie Beet­hoven auch mit größeren Orchestern?
Dann wird es andere Musik, aber das ist nicht schlechter. Ich hab die Pastorale letztens in Cincinnati gemacht, das hatte wunderbare Farben, die amerikanischen Orchester haben eine völlig andere Vorstellung davon, was ein „guter“ Klang ist. Es gibt kein Richtig oder Falsch, es muss überzeugen. Natürlich ist die kleine Besetzung „authentisch“, so hat man es zu Beethovens Zeiten gespielt. Aber Authentizität interessiert mich überhaupt nicht. Auch Furtwänglers Beethoven ist sehr authentisch, es so zu machen war zu seiner Zeit richtig. Wir haben inzwischen vieles neu überdacht. Und es zeigt die Stärke und Kraft dieser Musik, dass sie so viel Nach- und Umdenken verträgt. Die Frage ist einzig und allein: Ist das, was wir tun, überzeugend, und kommen wir dem nahe genug, was wir in dem Stück sehen. Am Ende muss die Musik das Publikum berühren, ihm etwas sagen. Und wenn sie das tut, dann sind wir auf dem richtigen Weg.

Wie wichtig sind Ihnen die Intentionen des Komponisten?
Das ist die Grundlage. Aber jeder Text kann auf verschiedene Weise gelesen werden, der eine ist überzeugt, der Komponist wollte es so, der anderer ist überzeugt vom Gegenteil. Letzten Endes geht es darum, wirklich daran zu glauben, was man tut. Auch wenn man völlig daneben liegt, ist die Chance größer, dass das Ergebnis dann überzeugend wird. Je mehr Informationen man hat, desto besser. Zu wissen, dass ein bestimmtes Thema von einem Volkslied stammt, oder auch ein Bild Beethovens zu sehen, all das, auch scheinbar nutzloses, ergibt ein Wissen, ein Verständnis, das einem hilft, die Musik intuitiv zu verstehen. Wenn’s drauf ankommt, macht die Intuition 90 Prozent aus, das Wissen zehn Prozent. Aber diese zehn Prozent sind sehr wichtig.

Sind Sie der Person Beethoven mit den Jahren nähergekommen?
Er interessiert mich nur, um die Musik besser zu verstehen. Ich bin froh, dass ich in meinem Leben nicht vielen Genies begegnet bin. Denn die sind als Menschen oft schlimm. Ich bin auch froh, dass ich einigen begegnet bin – manche waren netter, andere weniger. Aber die Persönlichkeit oder das Leben eines Komponisten direkt mit seiner Musik zu verbinden, kann sehr in die Irre führen. Es gibt eine Freiheit des Geistes und eine Großzügigkeit in Bruckners Musik, die man vielleicht nie in seiner Person gespürt hat. Es gibt Musik, die man vielleicht weniger gern spielen würde, wenn man den Menschen gekannt hätte. Aber darüber mache ich mir keine Gedanken.

Wollten Sie die neun Symphonien schon lange aufnehmen?
Als ich jung war, war das eine monumentale Aufgabe. Vor zehn, fünfzehn Jahren, als die Plattenindustrie in die Krise geriet, dachte ich, das wird nie was. Und in der Tat fragen mich viele: Warum in aller Welt nimmst du Beethoven auf? Aber irgendwann wurde die Idee unumgänglich, wir waren so weit gekommen, dass wir es einfach machen mussten.

Hat Beethoven neun oder nur sieben bedeutende Symphonien geschrieben?
Ich liebe die ersten beiden! Die erste ist ein brillantes Stück, aber meine persönlichen Favoriten sind die Zwei und Vier. Diese drei Sympho­nien zeigen eine Seite von Beethoven, die wir nicht unbedingt sehen wollten oder an die wir nicht geglaubt haben: Da zeigt sich die Verbindung zur Vergangenheit, das ist echte Wiener Klassik, das ist noch nicht der große, heroische Meister, der Revolutionär, als den wir ihn sehen wollen. Man spürt, wie sehr Haydn ihn beeinflusst hat, da ist eine Leichtigkeit, eine Freude, die nach und nach aus seinem Werk verschwindet. Eine Art Schönheit, die nichts mit tiefer Emotion, mit Philosophie zu tun hat, da ist eine Einfachheit, die ich unwiderstehlich finde. Das Finale der Vierten zum Beispiel hat beinahe einen sportiven Charme, das ist fast albern. Beethoven ist alles andere als albern, aber er kann durchaus auch etwas albern sein. Und wenn wir diesen Aspekt an Beethoven erkennen und ernst nehmen, dann finden wir ihn auch in der Eroica – und sogar Hinweise darauf in der Fünften. Das liebe ich.

Sie haben mal gesagt, Dirigieren sei kein Beruf, sondern eine Lebensweise. Was heißt das für Ihr Leben außerhalb des Konzertsaals?
Es mag pathetisch klingen, aber mein Leben dreht sich nur darum, was ich tue. Und das genieße ich. Ich liebe es, Musik zu hören, ich entdecke laufend neue Stücke, nicht weil ich muss, sondern weil ich es mag. Andere sammeln Briefmarken. Meine Briefmarken sind neue Stücke. Alles in meinem Leben ist direkt oder indirekt verbunden mit meiner Arbeit. Selbst wenn ich einen freien Morgen habe – ich stehe unter der Dusche und merke, dass ich das Thema des zweiten Satzes pfeife, den ich am Vorabend dirigiert habe. Das lebt in einem, und das ist wunderbar. Das ist wie eine Religion, ich kann die Musik nicht ausschalten und sagen, ich mache mal eine Woche ohne. Nicht mal einen Tag. Auch wenn ich nicht wirklich Musik mache. Und als Chefdirigent oder Künstlerischer Leiter hat man zusätzlich eine Menge Dinge zu überlegen.

Ihr Verhältnis zur Kammerphilharmonie wirkt fast symbiotisch. Wie ist das möglich, wo Sie noch zwei weitere Orchester leiten und dem in Tallinn eng verbunden sind?
Jede Beziehung ist anders. Diese Art von kammermusikalischer und persönlicher Beziehung wäre mit einem anderen Orchester nicht möglich. Die Kammerphilharmonie ist selbstverwaltet und funktioniert demokratisch. Hier fühle ich mich nicht wie ein Dirigent, das heißt in einer Stellung, wo ich meine Sichtweise durchsetzen muss. Hier lade ich meine Batterien auf. In den großen Orchestern kann man nicht alle Musiker mitnehmen und einbinden, es sind zu viele, und viele Meinungen sind nicht nur aus musikalischen Gründen so. Wenn wir in Bremen über Musik reden, geht es nur um Musik, nur das Ergebnis zählt.

Halten Sie dieses Modell für ideal?
Ja, und es funktioniert auch in großen Orchestern. Die Berliner und die Wiener Philharmoniker sind ja selbstverwaltete Orchester. Allerdings: Je größer der ökonomische Druck, desto verführbarer ist man, auch was Hierarchien­ betrifft. Die großen Plattenfirmen und Konzertagenturen diktieren das Leben der Berliner und der Wiener Philharmoniker zu einem gewichtigen Teil. Und am Ende werden viele künstlerische Entscheidungen aus wirtschaftlichen Gründen getroffen. Das ist völlig verständlich. Erfolg ist etwas sehr Gefährliches. Erfolg erzeugt Druck, weil man von ihm profitieren will. In dem Moment, in dem die Leute einen mit ihrer Liebe entdecken, kommen schon die Fesseln, die emotionalen Fesseln. Man wird verführt zu Dingen, die einen zuvor nie interessiert haben, weil man diese Möglichkeiten einfach gar nicht hatte. Ein Orchester ist ein guter Anker, weil ein Orchester den Wert des Festhaltens an den Idealen stärker im Auge hat als etwa Dirigenten und Solisten, die eine persönliche Gratifikation erhalten. Deshalb ist es gut, Leute zu haben, die sagen: Nein, das ist musikalisch nicht gut für uns. – Aber es wäre doch so großartig, man könnte so viel verkaufen … – Das Orchester sagt: Nein! Und das ist richtig. Das ist eine wundervolle Balance.

In Biografien werden Sie mal als estnischer, mal als amerikanischer Dirigent genannt.
Ich bin Este und werde es immer bleiben. Ich denke estnisch. Aber 1980 sind wir in die USA gegangen wegen der politischen Situation. Ich bin estnischer und amerikanischer Staatsbürger.

Wo ist Ihre musikalische Heimat?
Meine musikalische Basis ist Haydn, Mozart, Beethoven, Brahms. Und ich hatte zum Glück nie die Chance zu fragen, ist Carl Nielsen es wert, sich mit ihm zu beschäftigen oder nicht. Ich hab es einfach von Kindheit an getan. Es gibt großartige Dirigenten, die nie in ihrem Leben einen Nielsen oder einen Martinú dirigieren werden – weil sie es nicht wollen. Und das macht sie ärmer. Ich habe viele Schüler, die nicht viel wissen. Ich finde es erstaunlich, wie viele Leute es gibt, die nicht begierig sind, Neues zu entdecken.

Kann ein guter Dirigent alles dirigieren?
Ja, aber jeder Dirigent hat seine Grenzen, was an der eigenen Persönlichkeit liegt und weniger an der Kultur, aus der man stammt. Man muss nicht alles dirigieren. Aber man findet nur heraus, ob man eine Affinität für etwas hat, wenn man sich wirklich damit beschäftigt. Es gibt viele Pauschalurteile: Haydn ist langweilig, Reger ist überorchestriert, Hindemith hat keinen Sexappeal – das ist Quatsch, völliger Unsinn! Hindemith kann enorm spannend sein, und wenn Max Reger gut gemacht wird, kann er unglaublich leicht und lustig sein. Mein Vater hat uns immer ermuntert, neugierig zu sein – und dafür bin ich ihm sehr dankbar.

Sie geben rund 100 Konzerte im Jahr. Macht Dirigieren süchtig?
Järvi Ja! Jedes Orchester hat seine eigene Persönlichkeit, sein Profil, seine eigenen Tourneen und Projekte. Ich muss fair sein und allen gleich viel geben. Wenn ich nur ein Orchester hätte, würde es die Breite meines Repertoires einschränken. Und das möchte ich nicht. Ich mache viel zeitgenössische Musik in Cincinnati, wir entdecken Bruckner in Frankfurt, hier mache ich Beethoven und in Tallin vor allem estnische Musik. Das fügt sich alles zusammen – ich habe ein sehr interessantes Leben.

Welche CD-Aufnahmen würden Sie jemandem empfehlen, der noch keinen Beethoven im Regal hat?
Järvi Natürlich unsere. (lacht) Furtwängler unbedingt. Karajans zweite Gesamteinspielung ist sehr gut. Und es gibt viele gute Aufnahmen einzelner Symphonien: Es gibt einige sehr gute von Gardiner. Harnoncourt hat eine sehr gute Achte. Ich würde nie sagen, kaufen Sie eine Box und dann haben Sie Beethoven. So funktioniert Musik nicht. CD-Sammeln ist eine Sucht. Wenn man ein Stück mag, will man erfahren, wie jemand anders es gesehen hat.



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