Beethovens Sinfonien: Bonn gegen Wien
Von Bernhard Hartmann
General Anzeiger
Bonn. Es ist ein bisschen der Kampf zwischen David und Goliath, wenn die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen und die Wiener Philharmoniker gegeneinander antreten, um Beethovens neun Sinfonien zu präsentieren.
Hier schwingt der drahtig schlanke Paavo Järvi den Taktstock, dort steht der hünenhaft massige Christian Thielemann am Pult; hier bietet die in jeder Sinfonie andersfarbig ausgeleuchtete Bonner Beethovenhalle die Kulisse für Aufführung und Aufnahme, dort der Goldene Saal des Wiener Musikvereins. Erschienen sind beide Zyklen jetzt als DVD-Box. Es sind freilich nicht nur solche Äußerlichkeiten, die den Unterschied ausmachen. Aber sie passen zum musikalischen Ergebnis.
Als Paavo Järvi 2004 künstlerischer Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen wurde, fand er ein Ensemble vor, das seinen Vorstellungen von einem Beethoven-Klang ganz nahe war: Man orientierte sich mit behutsamem Einsatz alter Instrumente und kleiner Besetzung durchaus am Originalklang der Beethoven-Zeit. Mindestens ebenso wichtig aber ist die unbedingte Leidenschaft der Beteiligten. Wenn die Kamera an den Musikern vorbeifährt, liest man in jedem Gesicht: "Das hier ist unser Projekt!"
Järvi und das selbstverwaltete Orchester, das seit Jahren eine Residenz beim Beethovenfest innehat, haben ihren Beethoven wachsen und reifen lassen. In ungezählten Konzerten rund um den Globus und mit einem bei Sony erschienenen, hochgelobten CD-Zyklus, der 2009 mit der neunten Sinfonie vollendet worden war. Die Präzision, mit der sie nun bei den live in der Beethovenhalle mitgeschnittenen Bonner Konzerten des vergangenen Jahres etwa das atemlos virtuose Finale der vierten Sinfonie spielen, wirkt auch am Bildschirm und vor den heimischen Boxen absolut spontan und mitreißend.
Järvi orientiert sich mit seinen Tempi an Beethovens originalen eigenen Metronomangaben. Eine vor allem bei den Vertretern der romantischen Tradition nicht ganz unumstrittene Vorgehensweise. Sein Kollege Kurt Masur sagte erst vor einigen Tagen während seines Bonner Meisterkurses, dass Beethovens eigenes Metronom wohl sehr ungenau gewesen sei und man die Tempi stets etwa 20 Prozent geringer ansetzen müsse. Auch Järvi hat sich dazu einmal geäußert: "Beethoven war zwar taub, aber nicht doof", meint der estnische Dirigent.
Er sieht die teilweise radikalen Tempi durchaus in Übereinstimmung mit Beethovens gesamtem Kunstwollen, das nie sich im Mainstream bewegt. Christian Thielemann setzt sich da ganz souverän über die überlieferten Zahlen hinweg, orientiert sich an Beethovens ausgeschriebenen Tempobezeichnungen in den Partituren und am Charakter der Musik, wie er ihn empfindet, überlegt jedes Mal neu, was in einem bestimmten Kontext Allegro, oder was Adagio bedeutet. Inspiration ist für ihn ein wichtiges Wort.
Wie man in der fünften Sinfonie erleben kann, muss dies nicht heißen, dass die Tempi grundsätzlich langsamer sind als bei Järvi. Aber Thielemann achtet sorgsam darauf, die Philharmoniker nie bis an die Grenze zu führen. Dieses Orchester will immer schön klingen, und bei ihm darf es das auch. Beide DVD-Zyklen bieten eine Fülle an Zusatzmaterial. Der Bonner Zyklus enthält einen Dokumentarfilm von Regisseur Christian Berger, der Orchester und Dirigent bei den Proben in Bremen und Bonn begleitet. Die Kamera ist auch dabei, wenn sie am Rhein entspannen oder wenn eine Bratschistin den Bonner Geigenbauer Peter Greiner aufsucht und um Hilfe bittet.
Ausführlich reden Musiker und Dirigent dabei über ihr spannendes Projekt. In der DVD-Edition der Wiener Philharmoniker sprechen nur der Dirigent und der Münchner Kritikerpapst Joachim Kaiser. Man widmet sich sich jeder Sinfonie gut eine Stunde lang. Das ist vor allem unterhaltsam. Man erfährt viel über Kaisers Beethoven und viel über Thielemanns Beethoven. Sie verstehen und deuten die Sinfonien aus einer sehr romantischen Tradition, etwa wenn sie die Musik danach abklopfen, welche Ideen sich später bei Wagner, Mahler oder Pfitzner wiederfinden.
Im Ergebnis wirkt Järvis Beethoven aufregender und auch authentischer. Nicht ohne Grund hören viele Kritiker in seinem Zyklus den Beethoven des 21. Jahrhunderts. Auch in der Musik ist David gegen Goliath eben nicht ganz chancenlos.
http://www.general-anzeiger-bonn.de/index.php?k=loka&itemid=10003&detailid=827371&bid=1021629
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