Deutsche Kammerphilharmonie unter Järvi und das Hilliard Ensemble

General-Anzeiger
02.10.2012
Bernhard Hartmann

BONN. Mal eben gut 700 Jahre Musikgeschichte innerhalb eines Konzertes zu durchschreiten, ist schon eine echte Herausforderung. Der Dirigent Paavo Järvi und die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen - seit vielen Jahren Residenzorchester des Beethovenfestes - nahm sie an, allerdings nicht ohne sich der Hilfe des britischen Hilliard-Ensembles zu versichern, das seit Jahrzehnten auf die Vokalmusiktradition der vorbarocken Zeit spezialisiert ist.



Paavo Järvi und die Deutsche Kammerphilharmonie in der Beethovenhalle. Foto: Barbara Frommann

Die frühesten Kompositionen an diesem Abend waren denn auch A-cappella-Werke aus dem 14. Jahrhundert, fünf Motetten des französischen Komponisten Guillaume de Machaut. Diese spätmittelalterliche Musik klingt in der Wiedergabe von David James (Countertenor), Rogers Covey-Crumb (Tenor), Steven Harrold (Tenor) und Gordon Jones (Bariton) wunderbar rein, die kompliziert organisierten Stimmen dieser weltlichen und geistlichen Gesänge wirken selbst unter den akustischen Bedingungen der Beethovenhalle unangestrengt, fast meditativ.

Erst dann kamen die Musiker aus Bremen auf die Bühne. Auf den Pulten lagen Noten eines Komponisten aus dem 20. Jahrhundert (Strawinski), der sich mit einem Meister der Renaissance (Gesualdo) auseinandersetzte: Die altertümliche Harmonik und Melodik der frühen Musik und der Klang eines sehr farbig besetzten modernen Orchesters gehen hier eine überaus reizvolle Verbindung ein, die vor allem durch die vorzüglichen Bläser der Kammerphilharmonie eine bemerkenswerte Leuchtkraft erhielt.

In der Programmdramaturgie folgte mit beinahe logischer Konsequenz ein Werk des 21. Jahrhunderts, das aber durchaus ans Mittelalter anknüpft. In "Questions...", das der estnische Komponist Erkke-Sven Tüür den vier Stimmen des Hilliard-Ensembles sozusagen auf den Leib geschrieben hat, stehen die Männerstimmen einem Streichorchester gegenüber. Die Textgrundlage ist eher prosaisch: Ein vertontes Interview mit dem amerikanischen Quantenphysiker David Bohm (1917-1992), der überzeugt war, dass die Trennung von Kunst und Wissenschaft nur eine vorläufige sei.

Die Fragen werden in dichtem vierstimmigem Satz formuliert, bei den Antworten lockert Tüür den Satz ein wenig mehr auf. Und das Orchester kommentiert die Gedanken und Aussagen, mitunter sehr direkt und in der Interpretation der Kammerphilharmonie ungemein energetisch. Der Schluss dieses auch von den vier britischen Stimmen mit großer Intensität vorgetragenen Dialogs aber wirkte beinahe mit einem auskomponierten Fragezeichen. Neben den Ausführenden nahm auch der aus Estland angereiste Komponist (den mit Järvi die gemeinsame Zeit als Musiker in einer Rockband verbindet) den Applaus entgegen.

Nach der Pause setzte man mit mit der zweiten Sinfonie von Johannes Brahms ein orchestrales Glanzlicht. Diese Interpretation hatte alles, was man sich nur wünschen kann: Leidenschaft, Feuer, Virtuosität, mitreißende rhythmische Kraft und dabei eine nur selten zu vernehmende Durchhörbarkeit. Besser kann man ein Publikum für einen kommenden Brahms-Zyklus nicht anfixen. Nach dem Trompetensignal des Finales riss es die Zuhörer förmlich von den Sitzen.

Mit zwei Zugaben bedankte man sich dafür: Nach Brahms' Ungarischem Tanz folgte Sibelius' "Valse triste", deren trübe Moll-Stimmung so klangschön wiedergegeben wurde, dass sie sich in pures Glück verkehrte.

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