Energetisch und ungezogen wie eine Sturmflut

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Die Deutschen Philharmoniker aus Bremen und ihr Dirigent Paavo Järvi erwiesen sich beim Gastspiel im Konzerthaus Berlin als frohgemute Energiebündel, die attaca attaca durch Beethovens „Eroica“ brausten. Das ging zwar auf Kosten der sinfonischen Dramaturgie, brachte aber das Publikum zum Rasen. 
Der Dirigent Paavo Järvi
Der Dirigent Paavo Järvi
Foto: Ventre Fotos
 
Deutsche Kammerphilharmonie, Paavo Järvi und Beethoven: das ist mittlerweile zu einer eigenen Qualitätsmarke geworden. Die Gesamtaufnahme der Sinfonien wurde hymnisch gefeiert, mit zyklischen Aufführungen aller neun Werke innerhalb weniger Tage lieferte man das zugehörige Event. Seit der ersten Beethoven-CD sind mittlerweile sieben Jahre vergangen. Ob sich in dieser Zeit nicht vielleicht doch schon etwas abgeschliffen hat?
Am Montagabend war die Kammerphilharmonie mit Paavo Järvi zu Gast im Konzerthaus, als Hauptwerk stand Beethovens 3. Sinfonie „Eroica“ auf dem Programm. Der Saal war ausverkauft, das Publikum am Ende kaum hinauszubewegen. Drei Zugaben musste das Ensemble aus Bremen spielen; Stücke, bei denen man ernsthaft befürchten musste, dass der Saal in kollektive Raserei verfallen würde. Die „Ungarischen Tänze“ Nr.1 und Nr.6 von Brahms wurden gespielt, ein wenig altbacken diese Wahl, hätte man denken können. Doch unter Järvi hört man hier nicht einfach dick aufgetragene Streicherbutter, sondern erregtes Beben und gewitzt dargebotene Galanterien. Wie mit dem Tempo gespielt wird, hier verzögert, dort vorausgestürzt wird: das ist eine unerhörte Demonstration orchestraler Flexibiltät. Zumal nie die Gefahr besteht, dass bei all diesem Hin und Her der ganze Laden auseinanderfliegen könnte.
Ein elementares Erlebnis
In solchen Momenten zerfließen sämtliche Grenzen: Ist das nun Kammermusik? Aber was macht dann der Dirigent da vorne? Dann doch ein Orchester? Aber um die Konventionen der „Kulturorchester“, die da heißen: möglichst Schönklang, sich immer brav in den Gruppe einfügen, kümmert man sich erfrischend wenig. Und weil sich die Bremer die Freiheit nehmen, so herrlich ungezogen zu sein, kann ein elementares Erlebnis wie diese „Eroica“ entstehen.
Die Sinfonie rollt über den Hörer hinweg: Der erste Satz braust voran wie ein Frühlingssturm, der Trauermarsch klingt, als wolle man das Begräbnis möglichst schnell hinter sich bringen, attaca schließt das Scherzo an, attaca folgt der Variationssatz. Kaum ein Streicher-Einsatz, bei dem nicht herzhaft die Saiten klirren, selten hört man in einer Sinfonie so viel Fagott, im Schlusssatz reißen die Klarinetten den Schalltrichter in die Höhe als sei es eine Mahler-Sinfonie. Eine Dreiviertelstunde Action, bei der man sich am Stuhl festhalten muss, um nicht fortgespült zu werden. Je länger das dauert, desto mehr drängt sich jedoch die Frage auf, ob nicht auch Beethovens Sinfonie weggespült wird. Der erste Satz stürmt bei Järvi so entschlossen voran, als seien alle Fragen geklärt. Dadurch klingt er wie ein Schlusssatz – was soll also noch folgen? Der Trauermarsch verliert seine Bedeutung als emotionaler Tiefpunkt, erinnert eher an eine rastlose Flucht vor der Trauer. Wenn mit dem Scherzo die Zielgerade erreicht ist, stellt sich also keine Erleichterung ein. Järvi versteht diese Sinfonie nicht als Ideengebäude, sondern als Abfolge energetischer Zustände. Vielleicht ist das so modern, dass man sich erst noch dran gewöhnen muss.
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