Paavo Järvi: "Bei Brahms weiß jeder, wie es geht"
GESPRÄCH
LJUBIŠA TOŠIĆ
24. August 2015
Wien – Es wird noch bis November dauern. Dann wird Paavo Järvi
im Wiener Konzerthaus mit dem Orchestre de Paris zu erleben sein. Wer
internationale Flughäfen mehr frequentiert als Konzertsäle, könnte dem
estnischen Dirigenten aber womöglich schon eher begegnen. Der Maestro, der vor
ein paar Jahren in Salzburg mit der Deutschen Kammerphilharmonie furiose
Beethoven-Symphonien präsentiert hat, ist ziemlich heftig unterwegs. Der
Chefdirigent des Orchestre de Paris ist auch Leiter des japanischen NHK
Symphony Orchestra und somit – die Kammerphilharmonie mitgezählt – bei drei
sehr respektablen Klangkörpern kontinuierlich tätig.
Im Sommer, zur Urlaubszeit, sieht ihn zudem auch das
estnische Pärnu Music Festival, welches mit Dirigentenmeisterkursen lockt und
ein Orchester aus internationalen Kapazitäten und jungen Esten entstehen lässt.
"Es geht darum, die Talentiertesten des Landes mit internationalen
Kollegen zusammenzubringen. In der Hoffnung, dass nachhaltige musikalische
Kontakte entstehen. Es gibt in Estland viele Talente. Aber es ist schwer,
Zugang zur Szene außerhalb des Landes zu finden", findet Järvi, der auch
die familiäre Atmosphäre des Festivals schätzt. "Meine Kinder sind dabei,
alle Järvis sind dabei!" Das meint natürlich wohl auch Vater Neeme Järvi,
ebenfalls bekannter Dirigent, Bruder Kristjan Järvi (auch umtriebiger Dirigent)
und Schwester Maarika Järvi, die Flötistin ist.
Nuancierter Zugang
Den Eindruck, Järvi wäre ein – ob vieler Jobs –
oberflächlicher Notendurchwinker, wäre jedoch brutal falsch. Sein Beethoven in
Salzburg berückte durch akzentuierten, nuancierten Zugang. Und auch wenn Järvi
über Komponisten spricht, etwa über Johannes Brahms, ist zu merken, dass hier
einer Wege abseits von Klischees und ausgelatschten Pfaden sucht.
Brahms wäre immer sehr komplex für ihn gewesen: "Man
hat ihn als traditionell oder akademisch gesehen, aber da ist mehr. Ja, Form
und Struktur sind wichtig, aber keiner schreibt nur ihretwegen Musik! Brahms
ermutigte Kollegen, mit seiner Musik frei umzugehen, er hat Tempofluktuationen
erwartet, war ein aktiver Musiker. Die brillante Architektur aufzuzeigen, zu
zeigen, was alles aufeinander bezogen ist, ist nicht alles. Aber da sind
Traditionen, jeder weiß, wie es geht. Deshalb war es schwer für mich mit
Brahms."
Von den individuell überwundenen Schwierigkeiten wird am 5.
und 6. Dezember dann im Konzerthaus zu hören sein. Järvi setzt alle vier
Symphonien mit der Deutschen Kammerphilharmonie um. Und es wird die Besetzung
nicht massiv sein, schlanker als gewohnt: Immer wieder spricht Järvi von
Kammermusik als Musikvision. Wobei Kammermusik nicht gleich "klein
besetzt" bedeute. Da gehe es eher um die Einstellung der Musiker, mein
Järvi, um das Zuhören und Reagieren, "auch um das Wissen, wann man wichtig
ist und wann nicht. Wann man sich zurücknehmen und wann sich in den Vordergrund
spielen soll."
Järvi betont die Sache mit der Einstellung der Musiker. Ihm
geht es auch um einen speziellen Enthusiasmus, der im Profialltag verloren
gehen kann. "Warum haben Leute wie Claudio Abbado, Bernard Haitink und
Vladimir Ashkenazy viel Zeit mit jungen Orchestern verbracht, auch neue
Jugendorchester gegründet? Warum macht man das? Weil sie einen speziellen Hunger und
Idealismus suchten." Möglich, dass Järvi ihn auch beim japanischen NHK
Symphony Orchestra findet. Er ist begeistert. Das Vorurteil, dort gäbe es
technische Reife, aber keine musikalische, sei "ein unsinniges Stereotyp.
Ehrlich: Das NHK ist eines der besten Orchester, die ich je dirigiert
habe!" (Ljubiša Tošić, 24.8.2015)
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