Die Esten drängen nach Westen
Faz.net
JAN BRACHMANN
20/07/2016
Paavo Järvi macht das Musikfestival in Pärnu konkurrenzfähig für Europa und wird ab 2017 einen Teil davon exportieren. Das wird für Unruhe in der europäischen Festivallandschaft sorgen.
© KAUPO KIKKAS
Nichts bleibt schläfrig, nichts verwaschen: Paavo Järvi probt mit dem Estonian Festival Orchestra in Pärnu.
Im Menuett fahren die Rhythmen Achterbahn, bis mit einer sensationellen Pause die Notbremse gezogen wird. Der Witz zündet auch beim zweiten Mal; die Wiederholung steigert seine Wirkung sogar. Da zeigt sich der Könner. Das Finale ist ein Tanz auf der Tenne. Über den Fagott-Bordunen fliegen die Spelzen, die vom Dreschen übriggeblieben sind. Dazwischen fliegen Beine und Röcke: So klingt ein lustiges Beisammensein der Landleute. Nach dem letzten Ton der Sinfonietta Riga entlädt sich die Begeisterung der Hörer in Pärnu. Es muss nicht immer Gustav Mahler sein. Man kann die Leute auch mit Joseph Haydn vom Hocker reißen: Symphonie Nummer 104, D-Dur. Aber dazu muss man Haydn dirigieren können. Nach einem wahren, bösen Wort von Marek Janowski gibt es nämlich in der Welt zu viele schlechte Mahler-Interpretationen und zu wenig gute Haydn-Aufführungen. Paavo Järvi kann Haydn.
Er kann auch Carl Nielsen, dessen zweite Symphonie - „Die vier Temperamente“ - er mit seinem eigenen, 2011 gegründeten Ensemble, dem Estonian Festival Orchestra, aufführt. Hochkonzentriert wird musiziert, alle Details sind durchgearbeitet: das Pingpong der Akzente zwischen Violinen und Hörnern, Wechselgesänge zwischen den Gruppen des Blechs, zielgerichtete Schärfekurven in den zweiten Geigen. Nichts ist pauschal, nichts schläfrig, nichts verwaschen.
So wie Iván Fischer sich sein Budapest Festival Orchestra und Claudio Abbadosich sein Lucerne Festival Orchestra zusammengestellt haben, so suchte sich auch Paavo Järvi aus allen Orchestern der Welt, bei denen er gearbeitet hatte, die besten Musiker aus: von Estland bis Griechenland, von Großbritannien bis Tokio. Der Geiger Florian Donderer, Konzertmeister der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, ist dabei sein drittes und viertes Ohr oder „meine zweite rechte Hand“, wie Järvi sagt.
Ein erfahrener Orchesterpsychologe
Paavo Järvi, in Estland als Sohn des nicht minder großen Dirigenten Neeme Järvi geboren, verbrachte viele Kindheitssommer in Pärnu, bevor die gesamte Familie die Sowjetunion verließ. Der Ort war im neunzehnten Jahrhundert durch den baltendeutschen Bürgermeister Oskar Brackmann zu einem mondänen Seebad ausgebaut worden mit eleganten Kurhäusern am drei Kilometer langen Sandstrand der Ostsee (die hier im Juli mehr als zwanzig Grad warm wird) und mit malerischen Holzvillen, die noch heute Schnitzzierrat wie aus geklöppelter Spitze tragen.
In Pärnu traf sich später die Musiker-Elite der Sowjetunion. David Oistrach empfing hier Freunde auf seiner Datsche. Es gibt auch einige Schwarzweißfotos, auf denen der kleine Paavo mit Dmitri Schostakowitsch zu sehen ist oder mit Aram Chatschaturjan, dem er im Sommerhaus dessen „Säbeltanz“ auf dem Xylophon vorgespielt hatte. Nachdem Estland 1991 zum zweiten Mal in der Geschichte seine staatliche Unabhängigkeit erlangte, sind auch die Järvis - inzwischen sämtlich Bürger der Vereinigten Staaten - künstlerisch in ihre alte Heimat zurückgekehrt.
Neeme Järvi überredete den Bürgermeister von Pärnu im Jahr 2003, eine neue, schmucke, gut klingende Konzerthalle zu bauen. Ihr großer Saal fasst - bei herrlicher Beinfreiheit - knapp 900, der Kammersaal 170 Menschen. Seit 2010 leitet Paavo Järvi hier das Pärnu Musikfestival. Neben dem international zusammengesetzten Festivalorchester gibt es drei Ensembles der Järvi-Akademie für hochbegabte Nachwuchsmusiker. Das Kammerorchester vereint die Teilnehmer internationaler Meisterkurse des Festivals. In der Sinfonietta spielen junge estnische Streicher unter der Leitung des technisch hochversierten Dirigenten Arkady Leytush, der zugleich ein erfahrener Orchesterpsychologe ist. Das Jugendorchester der Järvi-Akademie ist gewissermaßen die große Gruppe aus allem zusammen.
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