Die Heimat des Paavo Järvi

Weser-kurier
Christoph Forsthoff
15.07.2016

Im estnischen Pärnu verantwortet der Bremer Stardirigent ein spannendes Festival

Verbindet Arbeit und Sommerfrische: Paavo Järvi am Strand von Pärnu. (fr, Kaupo Kikkas)
Nun ist der 53-Jährige zurückgekehrt an den Traumort seiner Kindheit. Zumindest für zwei Wochen. Der inzwischen nicht nur bei der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, sondern weltweit gefeierte Dirigent hat dort 2010 das Pärnu Music Festival sowie die Järvi-Academy ins Leben gerufen. Und setzte damit eine Tradition fort, die Geiger-Legende David Oistrach in dem 40 000-Einwohner-Städtchen begründet hatte: Bis zu seinem Tod 1974 lud der Russe allsommerlich Kollegen und Musikstudenten zu spontanen Konzerten in seine kleine grüne Datscha ein. „Diese Idee wollten wir aufgreifen, Musiker aus aller Welt zusammenholen, um hier eine Gemeinschaft und ein Gemeinschaftserlebnis zu schaffen“, erzählt Järvi. Wobei letzteres keineswegs auf Meisterkurse, Kammerorchester und Sinfonietta, Jugendsinfonieorchester und das Estonian Festival Orchestra beschränkt bleibt, sondern für ihn selbst auch ein großes Familientreffen bedeutet: Allein zehn Järvis – nicht nur mit Taktstock, sondern auch an Flöte, Geige, Bratsche, Cello und Klavier – finden sich unter den 200 Festival-Musikern, zahlreiche weitere Verwandte genießen wie die Urlauber aus Tallinn, Finnland oder Deutschland die Sommerfrische zum Entspannen.
Das gilt auch für Paavo Järvis zwölf- und neunjährige Töchter, Lea und Ingrid, die ihm schon mal ungeduldig zu verstehen geben, dass es nun Zeit für den Strand sei – um den Vater dann einfach an die Hände zu nehmen und aus seinem Dirigier-Meisterkurs zu entführen. Kein Problem für die Studenten, da auch noch Neeme Järvi seine Hände im Spiel hat und man dem Sohn ebenso aufmerksam lauscht wie dem berühmten Vater.
„Unsere Technik und unsere Prinzipien fußen auf denselben Ideen – wir sind sehr eng und natürlich miteinander verbunden“, sagt Järvi Junior. „Umgekehrt hat er durch mich Bruckner schätzen gelernt und dirigiert inzwischen selbst dessen Werke.“
Nun, an diesem Kurs-Nachmittag geht es nicht um große Bögen und Bruckner-Welten, sondern schlicht ums exakte Zählen – und das passt Neeme Järvi so gar nicht bei dem jungen Bayer Kai Johannes Polzhofer. „Eins – zwei – drei – vier, eins – zwei – drei – vier“, insistiert das Familienoberhaupt, als der Dirigierschüler in Rachmaninows zweitem Klavierkonzert die Musiker des Jugendorchesters einfach nicht in den Griff bekommt. Folgsam tritt der Sohn zurück und überlässt dem Vater das Erklär-Feld – um dann pragmatisch Polzhofers‘ Arm zu ergreifen und dessen Dirigierbewegung ins Taktmaß zu führen.
„Die Järvis sind in Estland Nationalhelden“, meint Andres Siitan, langjähriger Manager des Nationalen Symphonieorchesters. „Paavo hat nicht nur viele Aufnahmen mit dem Nationalen Sinfonieorchester gemacht und mit seiner Sibelius-Kantaten-Einspielung den ersten Grammy in der estnischen Geschichte gewonnen, sondern das Orchester auch weltweit bekannt gemacht.“ Und da die Esten ein Volk seien, das die Musik besonders liebe, wisse man zu schätzen, was die Familie und ihr Wirken für das Land und dessen Bekanntheit in der Welt bedeute. Was der Stadt Pärnu anno 2002 sogar einen nagelneuen, akustisch eindrucksvollen Konzertsaal beschert hat: Der wirkt hier mit seinen 1000 Plätzen zwar etwas überdimensioniert – und wird außerhalb der Festivalzeit als Konferenzhalle genutzt, zumal sich das Städtchen nach dem Sommertourismus in einen neunmonatigen Winterschlaf begibt – doch wer hätte der berühmten Familie diesen Herzenswunsch verwehren wollen?
Eine Familie, die während des Festivals nicht als Star-Ensemble daherkommt: Während Papa Järvi sich nur zu gern ins Gespräch verwickeln lässt, huscht sein Sohn kurz vor Beginn des nächtlichen Auftritts des Hába Quartetts noch in die Kirchenbänke von St. Elisabeth – um beim Schlussapplaus die Tschechen mit seinem Smartphone zu fotografieren. „Paavo ist einfach ein Meister der Kommunikation“, meint beim anschließenden Musikertreff im Cafe „Passion“ DKB-Konzertmeister Florian Donderer, der nun schon im sechsten Sommer in gleicher Funktion im hiesigen Festivalorchester mitwirkt. „Er sieht sich als Kammermusiker unter Kammermusikern, ist offen für Impulse und vermag diese weiterzugeben.“ Sei es nun in der Musik – oder eben auch in seiner Heimat, der Järvi mit seinen Urlaubserinnerungen aus Kindertagen neue Impulse für den Tourismus gegeben hat.
„Dies ist ein magischer Ort." Paavo Järvi
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