Bei Schostakowitsch laufen die Musiker zu großer Form auf

morgenpost.de
Felix Stephan
7.05.2018

Dirigent Paavo Järvi ist ein Phänomen: Alle Orchester lieben ihn, alle Orchester wollen mit ihm arbeiten. Und wenn sie ihn nicht als Chefdirigent haben können, dann wenigstens als Gast – wohl wissend, dass Järvi aus ökonomischen Gründen viele Werke doppelt und dreifach pro Konzertsaison anbietet, und dies manchmal sogar an denselben Orten. Aktuelles Beispiel: Sibelius' Violinkonzert und Schostakowitschs Sechste Sinfonie, eine Programmkombination, die Järvi bereits am 22. Januar im großen Saal der Philharmonie präsentiert hatte. Gemeinsam mit dem Estnischen Festivalorchester damals, im Rahmen einer Jubiläumstournee.

Dreieinhalb Monate später sind es nun die Berliner Philharmoniker, die dieses Programm mit Järvi spielen. Allerdings mit zwei bedeutsamen Unterschieden. Denn zum einen hatte Järvi wenige Tage zuvor das Europakonzert der Philharmoniker in Bayreuth geleitet und dafür durchaus ein individuell zugeschnittenes Beethoven-Wagner-Programm im Gepäck gehabt. Und zum anderen nutzen die Philharmoniker jetzt in Berlin die Gelegenheit, über Sibelius' Violinkonzert und Schostakowitschs Sechste hinaus eine interessante Rarität wiederzuentdecken: Sibelius' "Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang" op. 55, ein Werk aus dem Jahre 1908, das die Philharmoniker laut Programmheft bislang nur ein einziges Mal auf den Pulten hatten – im September 1935. Herb und seriös lässt Järvi die Philharmoniker diesen 15-Minüter spielen. Etüdenähnlich der punktierte Reiter-Rhythmus, der hier über weite Strecken herrscht. Das ständige Auf und Ab der Streicher, mal im Unisono, mal in Gegenbewegung, entfaltet auf Dauer einen eigentümlich repetitiven Rausch.

Eine Enttäuschung dagegen Sibelius' Violinkonzert mit der Geigerin Lisa Batiashvili, die für die erkrankte Janine Jansen eingesprungen ist. Eine Enttäuschung vor allem wegen der Philharmoniker: von eckig bis verschwommen reicht die klangliche Bandbreite des Orchesters hier, von behäbig bis bollerig. Aber auch Solistin Batiashvili scheint sich an diesem Abend nicht ganz auf der Höhe zu befinden. Denn trotz ihrer triumphalen Dauerpräsenz, trotz ihres geschmackvollen romantischen Tonfalls – Batiashvili ruft hier vorwiegend Vorgefertigtes ab, bietet mehr Routine als spontan Durchlebtes.

Umso beglückender, dass die Philharmoniker in Schostakowitschs Sechster Sinfonie doch noch zu ganzer großer Form auflaufen. Die Musiker beben hier geradezu vor Tatendrang und exzentrischer Spielfreude. Sie bieten einen obsessiven Schostakowitsch, der herrlich in den Ohren schmerzt. Mit schauerlich schief dahinjagenden Holzbläsern im Scherzo und gnadenlos überdrehten Tempobeschleunigungen im Schluss-Presto.

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