Muskulöse Zukunft: Das Tonhalle-Orchester rüstet sich für die grosse Fahrt

nzz.ch
Felix Michel
14.10.2018

Der designierte Tonhalle-Chefdirigent Paavo Järvi beginnt bereits jetzt, Orchester und Publikum zu erobern. Was bei Mahler prächtig funktioniert, erweist sich bei Brahms allerdings als heikel.



Kathia Buniatishvili trifft auch enigmatische Zwischentöne – hier bei einem Auftritt an der Frankfurter Buchmesse. (Bild: Friedemann Vogel / EPA).

Obwohl noch nicht im Amt, geht Paavo Järvi mit dem künftig von ihm geleiteten Zürcher Tonhalle-Orchester auf Konzerttournee nach China, Taiwan und Korea. Zuvor hat man gewissermassen das musikalische Reisegepäck präsentiert: Liszt und Mahler; Debussy, Rachmaninow und Brahms – es müssen hochintensive Tage für alle Beteiligten gewesen sein.

Nach dem Jubel bei den ersten beiden Konzerten warf der Auftritt am Freitag dann doch ein paar Fragen auf – spannende Fragen, weil sie Järvis künstlerisches Ideal betreffen, vielleicht auch das zukünftige Selbstbild des Orchesters. Wie das klingt? Muskulöser, kantiger; stärker auf Reliefgebung, auf das Konturieren rhythmischer Details oder das Hervorheben einzelner Stimmen bedacht. Und Järvi musiziert gerne etwas rascher als gewohnt.

Strukturbewusstsein statt diffusem Duft

Wer nun fragt, wo denn bei all diesen relativen Umschreibungen der Vergleichspunkt liege, kommt schnurstracks zur Crux: Den Massstab bildet – das lässt sich schwer leugnen – die Vergangenheit, und das heisst in erster Linie: David Zinman. Jedoch nicht ausschliesslich, wie Claude Debussys «Prélude à l’après-midi d’un faune» aufzeigte. Da trennte Järvi die Formteile so strukturbewusst, da beleuchtete er Instrumentenkopplungen so genau, dass vom betäubend diffusen Duft dieses erotisch-philosophischen Tagtraums wenig übrig blieb – hätte Lionel Bringuier zumindest diese Falle mit seinem undurchschaubaren Charme nicht umgangen? Wie auch immer – neben wechselnden Dirigenten prägen ja die Orchestermitglieder jede Interpretation mit, so hier die Soloflötistin Sabine Poyé Morel, deren feingesponnener Silberfaden alles durchwirkte.

Gegenseitige Beflügelung ausgeprägter Persönlichkeiten versprach das 2. Klavierkonzert von Sergei Rachmaninow, zumal mit Khatia Buniatishvili eine prädestinierte Solistin den virtuosen Klavierpart meisterte. Doch manche Zwiesprache mit dem Orchester wollte nicht ganz gelingen, und wunderschön, doch merkwürdig überbelichtet ragten die Bläsersoli aus dem Ganzen. Buniatishvili traf dafür auch die enigmatischeren Zwischentöne – und vieles wird sich in den nächsten Konzerten noch fügen.

Schliesslich die Zweite Sinfonie von Johannes Brahms, die das Orchester erst im Frühjahr noch unter ihrem Ehrendirigenten Zinman gespielt hatte. Wenig überraschend klang denn auch manches altgewohnt. Umso bezeichnender, wo Järvi andere Akzente setzte – und wie alert und bereitwillig ihm das Orchester dabei folgte: Alles Motorische pointiert Järvi zusätzlich, bisweilen verlangsamt er hingegen ein Crescendo effektvoll. Wo er im Kopfsatz Gelegenheiten zum Atemholen auslässt, verharrt er im Allegretto-Satz überdeutlich auf notierten Zäsurpausen. Ein kontrastreiches Gestalten, das bei Brahms ästhetisch vielleicht doch weniger ergiebig ist als anderswo.

Vorbeihuschende Schatten

Zinman hat die Rolle des Dirigenten einst beiläufig mit der eines Springreiters verglichen. Er selbst konnte die Zügel seines Orchester-Pferds dank langjähriger Vertrautheit mit eleganter Lockerheit führen. Die dabei drohende Gefahr, sie ganz schleifen zu lassen, kennt Järvi bestimmt nicht, im Gegenteil: Er führt stellenweise so straff, dass ein Gefühl wie dasjenige ankündigungslos vorbeihuschender Schatten sich kaum einstellen kann – gerade solche Stimmungen wären jedoch für diese Sinfonie so charakteristisch.

Im Sattel macht Järvi jedenfalls jetzt schon eine gute Figur, und die Sympathie von Orchester und Publikum hat er bereits gewonnen. Da dürfen wir gespannt sein, wohin die grosse musikalische Reise führen wird, wenn die nächste Saison dann erst richtig beginnt. Für sie wie für die Asien-Tournee gilt: Gute Fahrt!

Comments

Popular Posts