Je grösser die Herausforderung, desto mehr glänzt der Maestro
nzz.ch
Thomas Schacher
11.10.2018
Mit sicherer Hand weiss Paavo Järvi auch Mahlers gewaltige Klanglandschaften zu formen. (Bild: Brescia e Amisano)
Offiziell beginnt die Amtszeit von Paavo Järvi als Chefdirigent und Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters erst in einem knappen Jahr. Doch Järvi gastiert bereits in der Saison 2018/19 mit vier Programmen in Zürich und gibt damit einen Vorgeschmack auf das, was von ihm in Zukunft zu erhoffen ist.
Mit grosser Spannung erwartete man deshalb den ersten Auftritt des estnischen Dirigenten vom vergangenen Mittwoch, dem der Charakter eines De-facto-Einstands zukam. Der Konzertsaal in der Tonhalle Maag war so gut wie ausverkauft, das Tonhalle-Orchester spielte mit der ersten Garnitur seiner Mitglieder. Und Järvi – das sei vorweggenommen – erfüllte die hochgesteckten Erwartungen mehr als genug, ja am Schluss des Konzerts wurde er vom Publikum für Zürcher Verhältnisse geradezu euphorisch gefeiert.
Strukturbewusstsein
Mit Franz Liszts erstem Klavierkonzert und Gustav Mahlers fünfter Sinfonie hat Järvi zwei zentrale Kompositionen des europäischen Repertoires aus dem 19. Jahrhundert ausgewählt. Dass das Klavierkonzert quasi als Vorprogramm für die Sinfonie dient, ist für die chinesische Pianistin Zee Zee, die an diesem Tag ihren 30. Geburtstag feiert, gewiss kein Vorteil. Und da sie zum ersten Mal bei der Tonhalle-Gesellschaft auftritt, hat sie auch noch keine Fangemeinde. Trotzdem schafft sie es binnen zwanzig Minuten, die Sympathien des Publikums für sich zu gewinnen. Der Charakter des Es-Dur-Konzerts, das den Spagat zwischen virtuoser Klavierfantasie und Sinfonischer Dichtung schlägt, kommt ihr dabei sehr entgegen. Das energische Dreinfahren liegt ihr gleichermassen wie das Ausbreiten einer zarten Melodie oder das neckische Herumhüpfen auf den Tasten.
Järvi sorgt mit sehr klarer Zeichengebung für die perfekte Koordination zwischen Soloinstrument und Orchester und verbindet die vier Sätze des Werks zu einem kohärenten Ganzen. Allerdings offenbaren sich die spezifischen Qualitäten des Dirigenten bei Liszt noch nicht im vollen Masse. Dafür muss man sich bis zur Mahler-Sinfonie gedulden. Und auch beim ersten Satz dieser cis-Moll-Sinfonie, dem Trauermarsch, sind es zunächst die dirigiertechnischen Fähigkeiten und das Strukturbewusstsein Järvis, die beeindrucken. Die Triolen des Marschthemas erklingen messerscharf, die verschiedenen Rhythmen des polyfonen Geflechts sind astrein aufeinander abgestimmt.
Bei den Tempi berücksichtigt Järvi durchaus die von Mahler geforderten Beschleunigungen und Beruhigungen, aber mit Mass, so dass der Satz nicht in seine Einzelteile auseinanderbricht. In der Dynamik dagegen forciert er die Extreme des Lärmig-Lauten und des ganz Zurückgenommenen, was im Vergleich zur Tempogestaltung eine wirkungsvolle Spannung erzeugt.
Es braucht dann das in jeder Beziehung radikale Scherzo, um Järvis Dirigierpersönlichkeit wirklich herauszufordern. Bei diesem Monstersatz von 819 Takten handelt es sich nicht um einen lockeren Zwischensatz, sondern um ein Gebilde, das Mahlers Verständnis von «Welt» exemplarisch zeigt. Der Satz beginnt als lieblicher Wiener Walzer, schlägt in den Trios den Tonfall der Wunderhorn-Lieder an, ufert indes in den Hauptteilen immer mehr aus und endet in einer Art von organisiertem Chaos. Järvi bringt diesen Kosmos in all seinen Extremen zum Klingen. Er findet hier einen ganz direkten Kontakt zum Tonhalle-Orchester, der sich auch in lebhafter Mimik und Körpersprache äussert. Die Musikerinnen und Musiker sind, bis zu den hintersten Pulten, ganz Auge und Ohr und steigern sich zur Höchstform.
In eine entrückte Welt des Schönen führt das berühmte Adagietto, wo die Stunde der Streicher und der Harfe schlägt. Järvi zaubert hier eine berührende Abschiedsstimmung herbei, was angesichts der Nähe dieses Satzes zum Lied «Ich bin der Welt abhanden gekommen» genau in der Intention des Komponisten liegt.
In der Welt verhaftet
Und dann? Was kommt nach dem Abschied von der Welt? In der zweiten Sinfonie feiert Mahler die Auferstehung als grossangelegtes Chorfinale. In der Vierten lässt er, nicht ohne Ironie, ein himmlisches Schlaraffenland erstehen.
In der Fünften gibt er sich weltlicher, obwohl im Rondo-Finale zum Schluss ein Choral auftaucht. Wie man diesen Schlusssatz deuten soll, darüber scheiden sich die Geister. Järvi sucht nicht die metaphysische Überhöhung. Wenn am Schluss im Blech der Choral erscheint, lässt er ihn nicht plakativ herausposaunen, sondern bettet ihn in die rasenden Figuren der Holzbläser und der Streicher ein. Järvi bleibt sozusagen innerhalb der Welt, wobei er die Utopie einer säkularen Harmonie heraufbeschwört.
Thomas Schacher
11.10.2018
Das Publikum strömte zu dem Konzert, mit dem Paavo Järvi, der künftige Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters, quasi seinen Einstand gab – und die Zeichen für die Zukunft stehen gut. Järvi erwies sich als sensibler Koordinator und souveräner Gestalter.
Mit sicherer Hand weiss Paavo Järvi auch Mahlers gewaltige Klanglandschaften zu formen. (Bild: Brescia e Amisano)
Offiziell beginnt die Amtszeit von Paavo Järvi als Chefdirigent und Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters erst in einem knappen Jahr. Doch Järvi gastiert bereits in der Saison 2018/19 mit vier Programmen in Zürich und gibt damit einen Vorgeschmack auf das, was von ihm in Zukunft zu erhoffen ist.
Mit grosser Spannung erwartete man deshalb den ersten Auftritt des estnischen Dirigenten vom vergangenen Mittwoch, dem der Charakter eines De-facto-Einstands zukam. Der Konzertsaal in der Tonhalle Maag war so gut wie ausverkauft, das Tonhalle-Orchester spielte mit der ersten Garnitur seiner Mitglieder. Und Järvi – das sei vorweggenommen – erfüllte die hochgesteckten Erwartungen mehr als genug, ja am Schluss des Konzerts wurde er vom Publikum für Zürcher Verhältnisse geradezu euphorisch gefeiert.
Strukturbewusstsein
Mit Franz Liszts erstem Klavierkonzert und Gustav Mahlers fünfter Sinfonie hat Järvi zwei zentrale Kompositionen des europäischen Repertoires aus dem 19. Jahrhundert ausgewählt. Dass das Klavierkonzert quasi als Vorprogramm für die Sinfonie dient, ist für die chinesische Pianistin Zee Zee, die an diesem Tag ihren 30. Geburtstag feiert, gewiss kein Vorteil. Und da sie zum ersten Mal bei der Tonhalle-Gesellschaft auftritt, hat sie auch noch keine Fangemeinde. Trotzdem schafft sie es binnen zwanzig Minuten, die Sympathien des Publikums für sich zu gewinnen. Der Charakter des Es-Dur-Konzerts, das den Spagat zwischen virtuoser Klavierfantasie und Sinfonischer Dichtung schlägt, kommt ihr dabei sehr entgegen. Das energische Dreinfahren liegt ihr gleichermassen wie das Ausbreiten einer zarten Melodie oder das neckische Herumhüpfen auf den Tasten.
Järvi sorgt mit sehr klarer Zeichengebung für die perfekte Koordination zwischen Soloinstrument und Orchester und verbindet die vier Sätze des Werks zu einem kohärenten Ganzen. Allerdings offenbaren sich die spezifischen Qualitäten des Dirigenten bei Liszt noch nicht im vollen Masse. Dafür muss man sich bis zur Mahler-Sinfonie gedulden. Und auch beim ersten Satz dieser cis-Moll-Sinfonie, dem Trauermarsch, sind es zunächst die dirigiertechnischen Fähigkeiten und das Strukturbewusstsein Järvis, die beeindrucken. Die Triolen des Marschthemas erklingen messerscharf, die verschiedenen Rhythmen des polyfonen Geflechts sind astrein aufeinander abgestimmt.
Bei den Tempi berücksichtigt Järvi durchaus die von Mahler geforderten Beschleunigungen und Beruhigungen, aber mit Mass, so dass der Satz nicht in seine Einzelteile auseinanderbricht. In der Dynamik dagegen forciert er die Extreme des Lärmig-Lauten und des ganz Zurückgenommenen, was im Vergleich zur Tempogestaltung eine wirkungsvolle Spannung erzeugt.
Es braucht dann das in jeder Beziehung radikale Scherzo, um Järvis Dirigierpersönlichkeit wirklich herauszufordern. Bei diesem Monstersatz von 819 Takten handelt es sich nicht um einen lockeren Zwischensatz, sondern um ein Gebilde, das Mahlers Verständnis von «Welt» exemplarisch zeigt. Der Satz beginnt als lieblicher Wiener Walzer, schlägt in den Trios den Tonfall der Wunderhorn-Lieder an, ufert indes in den Hauptteilen immer mehr aus und endet in einer Art von organisiertem Chaos. Järvi bringt diesen Kosmos in all seinen Extremen zum Klingen. Er findet hier einen ganz direkten Kontakt zum Tonhalle-Orchester, der sich auch in lebhafter Mimik und Körpersprache äussert. Die Musikerinnen und Musiker sind, bis zu den hintersten Pulten, ganz Auge und Ohr und steigern sich zur Höchstform.
In eine entrückte Welt des Schönen führt das berühmte Adagietto, wo die Stunde der Streicher und der Harfe schlägt. Järvi zaubert hier eine berührende Abschiedsstimmung herbei, was angesichts der Nähe dieses Satzes zum Lied «Ich bin der Welt abhanden gekommen» genau in der Intention des Komponisten liegt.
In der Welt verhaftet
Und dann? Was kommt nach dem Abschied von der Welt? In der zweiten Sinfonie feiert Mahler die Auferstehung als grossangelegtes Chorfinale. In der Vierten lässt er, nicht ohne Ironie, ein himmlisches Schlaraffenland erstehen.
In der Fünften gibt er sich weltlicher, obwohl im Rondo-Finale zum Schluss ein Choral auftaucht. Wie man diesen Schlusssatz deuten soll, darüber scheiden sich die Geister. Järvi sucht nicht die metaphysische Überhöhung. Wenn am Schluss im Blech der Choral erscheint, lässt er ihn nicht plakativ herausposaunen, sondern bettet ihn in die rasenden Figuren der Holzbläser und der Streicher ein. Järvi bleibt sozusagen innerhalb der Welt, wobei er die Utopie einer säkularen Harmonie heraufbeschwört.
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