"Für Jetlag gibt es keine Kur"
wienerzeitung.at
Christoph Irrgeher
28.11.2018
© Ventre Photos
Wien. Am Notenpult ist er genauso zu Hause wie am Flughafen: Paavo Järvi (55) zählt zu den Global Players der Dirigentenzunft. Der Este arbeitet in Fernost und Europa und macht hierzulande vor allem mit der Kammerphilharmonie Bremen Furore. Ab heute, Donnerstag, gastiert er mit ihr im Musikverein.
"Wiener Zeitung": Wer Ihnen auf Twitter folgt, bekommt den Eindruck, Sie dirigieren immer und überall. Wie oft reisen Sie?
Paavo Järvi:(lacht) Kommt drauf an. Wenn ich nach Japan fliege, bleibe ich normalerweise ein Monat dort. Auf Tournee reist man natürlich täglich.
Sind Sie immun gegen Jetlag?
Nein, dafür gibt es leider keine Kur. Ich habe alles ausprobiert, da muss man durch. Was ich nicht nehmen will, sind Medikamente. Viele Musiker tun das, ich halte es für gefährlich.
Sie sind an drei Orten Chefdirigent. Nächstes Jahr übernehmen Sie zudem das Tonhalle-Orchester Zürich. In Summe nicht etwas viel?
Derzeit sind es nur zwei reguläre Ensembles: die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen und das Japanische NHK Symphony Orchestra. Das Estonian Festival Orchestra arbeitet nicht regelmäßig.
Sie tourten jüngst durch China und attestierten dem Land ein hohes "Potenzial für klassische Musik". Wie meinten Sie das genau?
Es wäre möglich, dass China der nächste große Standort für klassische Musik wird. Als Herbert von Karajan anfing, nach Japan zu fahren, wurde das scheel beäugt. Aber er hatte recht: Das Land avancierte zum asiatischen Mekka der Klassik. China war damals noch außerhalb der Reichweite, es stand unter strenger kommunistischer Kontrolle. Inzwischen ist es zugänglicher geworden. Ich denke, das Land will nun aufholen und die schrecklichen Folgen der Kulturrevolution abschütteln. Heute hat man in China den Eindruck, dass jede Stadt einen neuen, großen Konzertsaal besitzt, es fließt viel Geld in die Klassik. Als ich mit dem Tonhalle-Orchester dort war, gastierten zugleich vier weitere bedeutende Orchester Europas.
Kommt diese Begeisterung aus der Bevölkerung - oder von der Führungsriege, die den wirtschaftlichen Kontakt zum Westen sucht?
Beides, glaube ich. Und ich denke, dass Karrieren von Pianisten wie Lang Lang zur Begeisterung beitragen. Solche Stars schaffen Rollenmodelle. Vor allem denke ich: Die Menschen sehnen sich nach etwas für die Seele - gerade an einem Ort, wo durch die Kulturrevolution so viel zerschlagen wurde. Die klassische Musik kann hier etwas beitragen. Für die Japaner und Chinesen ist es einfach, die Töne von Mozart und Bach zu verstehen. Warum auch immer, es gibt da einen emotionalen Zugang.
Stimmt es, dass Fernost-Tourneen für Orchester profitabel sind?
Für die berühmten ja, für die kleineren weniger. Es ist jedenfalls eine kluge Investition. Du kriegst vielleicht nicht sofort viel zurück, aber du könntest ein Publikumsliebling werden.
Schreiben Sie als Chef des NHK Orchestra in Japan oft Autogramme?
Ja, nach jedem Konzert. Ohne Übertreibung: Es stehen immer mehr als 100 Leute an. Diese Tradition gibt es in vielen deutschen und französischen Orten gar nicht.
Wenn Sie von A nach B fliegen, kommt es da manchmal zu Verwechslungen? Dass Sie sich irren und glauben, ein gewisses Stück am Ort B schon dirigiert zu haben?
Nicht wirklich. Das kann mir nur mit der Kammerphilharmonie passieren. Ich arbeite seit 20 Jahren mit diesem Orchester. Wenn wir jetzt wieder Haydn spielen, weiß ich nicht immer, welche Symphonien wir schon hatten - Haydn hat ja viele geschrieben.
Apropos: Sie gastieren mit der Kammerphilharmonie nun in Wien und spielen an drei Abenden ausschließlich Wiener Klassik. Warum?
Das habe ich mich auch gefragt. Wien ist ja die Heimat dieser Stücke. Musikverein-Intendant Thomas Angyan hat mich aber darum gebeten. Wir haben hier schon das letzte Mal ein sehr wienerisches Programm gespielt. Angyan hat sich darüber gefreut und gesagt, das sei hier nicht üblich - die verschiedenen Gastorchester würden ja ein sehr breit gefächertes Repertoire bedienen. Dass man uns die Wiener Klassik zutraut, liegt aber wohl auch an unserem Brahms- und Beethoven-Zyklus. Ich hoffe, wir enttäuschen nicht.
Ihre Beethoven-Aufführungen mit den Bremern wurden gefeiert. Woher kam Ihr leichter, federnder, perkussiver Ansatz? Von Ihrer Zusatz-Ausbildung zum Schlagwerker? Oder haben Sie sich am Sound des Originalklangs orientiert?
Die Gurus des Originalklangs haben mich stark verändert. Ich bin aufgewachsen mit den Beethoven-Aufnahmen von Bruno Walter, einem Giganten unter den Dirigenten. Wie wundervoll er den zweiten Satz der Zweiten phrasierte, das war für mich Beethoven. Als ich in die USA dann eine Aufnahme von Roger Norrington hörte, hat es mich vom Sessel gehaut. Ich dachte, irgendetwas muss kaputt seinan meinem Plattenspieler! Aber ich konnte mich nicht losreißen, so logisch und organisch klang das. Da loderte eine Energie, die ich nicht gekannt hatte. Dabei spielte Norrington genau das, was in den Noten steht. Man merkt plötzlich, dass viele Standardaufnahmen nicht mit der Partitur übereinstimmen. Das hat mir die Augen geöffnet, und ich beschäftigte mich stärker mit Originalklang-Dirigenten wie Nikolaus Harnoncourt. Seltsam, aber: In Amerika blickt man noch immer auf diesen Ansatz herab, man hält das für schlecht gespielt.
Wer war Ihr wichtigster Lehrer?
Mein Vater Neeme, der auch Dirigent ist. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich mich in die Musik verliebt habe. Dabei hatte ich auch andere tolle Lehrer wie Leonard Bernstein in den USA: ein Mann, sprichwörtlich größer als das Leben, überwältigend mit seiner Art zu sprechen, zu dirigieren und zu unterrichten.
In Ihrer Jugend waren Sie auch abseits der Klassik tätig. Sie spielten Schlagzeug in der Band des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür. Nehmen Sie noch ab und zu Drumsticks in die Hand?
Dafür habe ich keine Zeit. Aber ich bin weiterhin in Kontakt mit Tüür und dirigiere viel von seiner Musik.
Spaßfrage zum Abschluss: Sie haben vor ein paar Jahren einmal überraschend den European Song Contest auf Twitter kommentiert - ist mit einem Dacapo zu rechnen?
Ich war in London und hatte zufällig einen freien Abend. Also drehte ich den Fernseher auf, begann zum Spaß zu twittern, und die Leute fanden das lustig. Vielleicht mache ich das wieder, wenn ich Zeit habe. Aber versprechen kann ich das nicht.
Die Deutsche Kammerphilharmonie und Paavo Järvi gastieren am 29., 30. November und 1. Dezember im Wiener Musikverein. Beim Label RCA ist jüngst ihre Einspielung von Brahms’ Erster Symphonie erschienen.
https://www.wienerzeitung.at/themen_channel/musik/klassik_oper/1005091_Fuer-Jetlag-gibt-es-keine-Kur.html
Christoph Irrgeher
28.11.2018
Dirigent Paavo Järvi über China als dynamischen Klassikmarkt, scheinbar kaputte Plattenspieler und Scherze auf Twitter.
© Ventre Photos
Wien. Am Notenpult ist er genauso zu Hause wie am Flughafen: Paavo Järvi (55) zählt zu den Global Players der Dirigentenzunft. Der Este arbeitet in Fernost und Europa und macht hierzulande vor allem mit der Kammerphilharmonie Bremen Furore. Ab heute, Donnerstag, gastiert er mit ihr im Musikverein.
"Wiener Zeitung": Wer Ihnen auf Twitter folgt, bekommt den Eindruck, Sie dirigieren immer und überall. Wie oft reisen Sie?
Paavo Järvi:(lacht) Kommt drauf an. Wenn ich nach Japan fliege, bleibe ich normalerweise ein Monat dort. Auf Tournee reist man natürlich täglich.
Sind Sie immun gegen Jetlag?
Nein, dafür gibt es leider keine Kur. Ich habe alles ausprobiert, da muss man durch. Was ich nicht nehmen will, sind Medikamente. Viele Musiker tun das, ich halte es für gefährlich.
Sie sind an drei Orten Chefdirigent. Nächstes Jahr übernehmen Sie zudem das Tonhalle-Orchester Zürich. In Summe nicht etwas viel?
Derzeit sind es nur zwei reguläre Ensembles: die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen und das Japanische NHK Symphony Orchestra. Das Estonian Festival Orchestra arbeitet nicht regelmäßig.
Sie tourten jüngst durch China und attestierten dem Land ein hohes "Potenzial für klassische Musik". Wie meinten Sie das genau?
Es wäre möglich, dass China der nächste große Standort für klassische Musik wird. Als Herbert von Karajan anfing, nach Japan zu fahren, wurde das scheel beäugt. Aber er hatte recht: Das Land avancierte zum asiatischen Mekka der Klassik. China war damals noch außerhalb der Reichweite, es stand unter strenger kommunistischer Kontrolle. Inzwischen ist es zugänglicher geworden. Ich denke, das Land will nun aufholen und die schrecklichen Folgen der Kulturrevolution abschütteln. Heute hat man in China den Eindruck, dass jede Stadt einen neuen, großen Konzertsaal besitzt, es fließt viel Geld in die Klassik. Als ich mit dem Tonhalle-Orchester dort war, gastierten zugleich vier weitere bedeutende Orchester Europas.
Kommt diese Begeisterung aus der Bevölkerung - oder von der Führungsriege, die den wirtschaftlichen Kontakt zum Westen sucht?
Beides, glaube ich. Und ich denke, dass Karrieren von Pianisten wie Lang Lang zur Begeisterung beitragen. Solche Stars schaffen Rollenmodelle. Vor allem denke ich: Die Menschen sehnen sich nach etwas für die Seele - gerade an einem Ort, wo durch die Kulturrevolution so viel zerschlagen wurde. Die klassische Musik kann hier etwas beitragen. Für die Japaner und Chinesen ist es einfach, die Töne von Mozart und Bach zu verstehen. Warum auch immer, es gibt da einen emotionalen Zugang.
Stimmt es, dass Fernost-Tourneen für Orchester profitabel sind?
Für die berühmten ja, für die kleineren weniger. Es ist jedenfalls eine kluge Investition. Du kriegst vielleicht nicht sofort viel zurück, aber du könntest ein Publikumsliebling werden.
Schreiben Sie als Chef des NHK Orchestra in Japan oft Autogramme?
Ja, nach jedem Konzert. Ohne Übertreibung: Es stehen immer mehr als 100 Leute an. Diese Tradition gibt es in vielen deutschen und französischen Orten gar nicht.
Wenn Sie von A nach B fliegen, kommt es da manchmal zu Verwechslungen? Dass Sie sich irren und glauben, ein gewisses Stück am Ort B schon dirigiert zu haben?
Nicht wirklich. Das kann mir nur mit der Kammerphilharmonie passieren. Ich arbeite seit 20 Jahren mit diesem Orchester. Wenn wir jetzt wieder Haydn spielen, weiß ich nicht immer, welche Symphonien wir schon hatten - Haydn hat ja viele geschrieben.
Apropos: Sie gastieren mit der Kammerphilharmonie nun in Wien und spielen an drei Abenden ausschließlich Wiener Klassik. Warum?
Das habe ich mich auch gefragt. Wien ist ja die Heimat dieser Stücke. Musikverein-Intendant Thomas Angyan hat mich aber darum gebeten. Wir haben hier schon das letzte Mal ein sehr wienerisches Programm gespielt. Angyan hat sich darüber gefreut und gesagt, das sei hier nicht üblich - die verschiedenen Gastorchester würden ja ein sehr breit gefächertes Repertoire bedienen. Dass man uns die Wiener Klassik zutraut, liegt aber wohl auch an unserem Brahms- und Beethoven-Zyklus. Ich hoffe, wir enttäuschen nicht.
Ihre Beethoven-Aufführungen mit den Bremern wurden gefeiert. Woher kam Ihr leichter, federnder, perkussiver Ansatz? Von Ihrer Zusatz-Ausbildung zum Schlagwerker? Oder haben Sie sich am Sound des Originalklangs orientiert?
Die Gurus des Originalklangs haben mich stark verändert. Ich bin aufgewachsen mit den Beethoven-Aufnahmen von Bruno Walter, einem Giganten unter den Dirigenten. Wie wundervoll er den zweiten Satz der Zweiten phrasierte, das war für mich Beethoven. Als ich in die USA dann eine Aufnahme von Roger Norrington hörte, hat es mich vom Sessel gehaut. Ich dachte, irgendetwas muss kaputt seinan meinem Plattenspieler! Aber ich konnte mich nicht losreißen, so logisch und organisch klang das. Da loderte eine Energie, die ich nicht gekannt hatte. Dabei spielte Norrington genau das, was in den Noten steht. Man merkt plötzlich, dass viele Standardaufnahmen nicht mit der Partitur übereinstimmen. Das hat mir die Augen geöffnet, und ich beschäftigte mich stärker mit Originalklang-Dirigenten wie Nikolaus Harnoncourt. Seltsam, aber: In Amerika blickt man noch immer auf diesen Ansatz herab, man hält das für schlecht gespielt.
Wer war Ihr wichtigster Lehrer?
Mein Vater Neeme, der auch Dirigent ist. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich mich in die Musik verliebt habe. Dabei hatte ich auch andere tolle Lehrer wie Leonard Bernstein in den USA: ein Mann, sprichwörtlich größer als das Leben, überwältigend mit seiner Art zu sprechen, zu dirigieren und zu unterrichten.
In Ihrer Jugend waren Sie auch abseits der Klassik tätig. Sie spielten Schlagzeug in der Band des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür. Nehmen Sie noch ab und zu Drumsticks in die Hand?
Dafür habe ich keine Zeit. Aber ich bin weiterhin in Kontakt mit Tüür und dirigiere viel von seiner Musik.
Spaßfrage zum Abschluss: Sie haben vor ein paar Jahren einmal überraschend den European Song Contest auf Twitter kommentiert - ist mit einem Dacapo zu rechnen?
Ich war in London und hatte zufällig einen freien Abend. Also drehte ich den Fernseher auf, begann zum Spaß zu twittern, und die Leute fanden das lustig. Vielleicht mache ich das wieder, wenn ich Zeit habe. Aber versprechen kann ich das nicht.
Die Deutsche Kammerphilharmonie und Paavo Järvi gastieren am 29., 30. November und 1. Dezember im Wiener Musikverein. Beim Label RCA ist jüngst ihre Einspielung von Brahms’ Erster Symphonie erschienen.
https://www.wienerzeitung.at/themen_channel/musik/klassik_oper/1005091_Fuer-Jetlag-gibt-es-keine-Kur.html
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