Heimspiel für einen Star aus Ingolstadt
donakurier.de
Jesko Schulze-Reimpell
7.07.2019
Der Geigerin und Festivalleiterin Lisa Batiashvili gelingt ein denkwürdiger Auftritt bei den Audi-Sommerkonzerten
Explosives Temperament: Lisa Batiashvili spielt das Tschaikowsky-Violinkonzert, Paavo Järvi dirigiert.
SauerDas bemerkt man sofort bei der Probenarbeit, egal, ob jetzt Chefdirigent Paavo Järvi vor den Musikern steht oder ein Gast wie Jérémie Rhorer. Da gibt der Orchesterleiter etwa ein paar Anweisungen, sofort erinnert die Konzertmeisterin die zweiten Geigen daran, dass auch sie an einer Stelle etwas zu spät einsetzen, und der Klarinettist sagt, man sollte hier schon sehr prägnant musizieren, allerdings nicht so laut. Paavo Järvi kommentiert die Bemerkungen nicht.
Was ist das? Ein Orchester, bei dem jeder einfach so mitreden kann? Kratzt das nicht an der Autorität des Pultstars? Kann man so arbeiten?
"Wir sind ein selbstorganisierter Klangkörper", erläutert Bratscher und Orchestervorstand Jürgen Winkler. "Jeder von uns ist sehr aktiv am Gestaltungsprozess beteiligt. Paavo Järvi nimmt das gut auf. Ideen, die aus dem Orchester kommen, blockt er nicht ab, sondern integriert sie in sein Konzept. " Nur unsichere Dirigenten hätten damit Schwierigkeiten. Und er fügt noch hinzu: "Früher haben wir noch viel mehr hereingeredet, aber inzwischen hat sich das auf ein vernünftiges Maß reduziert. "
Paavo Järvi (56) ist bereits seit 2004 Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie. Zusammen sind Orchester und Dirigent gewachsen, heute gilt Järvi als einer der am höchsten gehandelten Orchesterleiter überhaupt. Außer den Bremern leitet er noch Japans bestes Orchester, das NHK Symphony Orchestra, und ab der kommenden Saison das hoch angesehene Tonhalle-Orchester Zürich.
Mit der demokratischen Gesinnung der Kammerphilharmonie hat der aus Estland stammende Dirigent keine Probleme: "Es ist einfacher mit einem solchen Orchester", sagt er. "Es gibt hier einen Sense of Ownership. Wenn man seinen eigenen Laden hat, dann guckt man bei der Arbeit nicht auf die Uhr, sondern tut das, was nötig ist. "
Die musikalische Demokratie hat allerdings ihre Kehrseiten. Gerade in den Anfangsjahren ist das 1980 von Studenten gegründete Orchester mehrfach dicht an der Pleite vorbeigeschrammt. Inzwischen werden 40 Prozent der Einnahmen des Orchesters von Sponsoren übernommen. Zudem gibt es Unterstützung von der Stadt Bremen.
An die Zusammenarbeit mit der Geigerin Lisa Batiashvili haben die Orchestermitglieder nur gute Erinnerungen. "Sie ist eine große Geigerin", sagt Jürgen Winkler. Und er erinnert an eine Anekdote, die sich vor über zehn Jahren in Bonn zugetragen hat. Damals fiel ein Dirigent aus, und es fand sich so schnell kein Ersatz. Also musizierte das Orchester das Beethoven-Violinkonzert mit Lisa Batiashvili ohne Orchesterleiter - und alles funktionierte so gut, dass man die Version dann auch auf CD einspielte. Diese Erfahrung hat das Orchester geprägt. Diesmal hat Paavo Järvi dem Orchester lachend zugerufen: "Das klappt so gut, ihr könnt auch ohne Dirigenten auftreten. "
Tatsächlich ist in jedem Augenblick die Unabhängigkeit, die unbändige Leidenschaft dieses Orchesters, das so sehr für seine eigenen Geschicke verantwortlich ist, zu spüren. Die Musiker sitzen förmlich auf der Stuhlkante beim Musizieren, sie geben alles. Man wagt es kaum zu schreiben, aber da wirken sogar die viel berühmteren BR-Symphoniker, die bei den Sommerkonzerten am Sonntag ein bewegendes Konzert gaben, fast ein wenig beamtig verglichen mit dem Feuereifer der Bremer.
Peter Tschaikowskys Violinkonzert und Werke von Robert Schumann standen am Freitagabend auf dem Programm des Konzertes im Rahmen der Audi-Sommerkonzerte. Schumann ist fast schon ein Hausgott für das Orchester - neben Beethoven, mit dessen Sinfonien die Musiker sich das größte Ansehen erspielen konnten. "Schumann liegt in unserer DNA", sagt Järvi. Und: "Ich mag Schumann einfach. "
Aber Schumann ist ein komplizierter Komponist. Schon kurz nach Erscheinen seiner Sinfonien setzte eine ebenso dauerhafte wie letztlich unergiebige Diskussion über die vermeintliche Unfähigkeit Schumanns ein, Orchestermusik zu instrumentieren. Der Romantiker galt als verhinderter Pianist, der seine Kompositionen von den schwarz-weißen Tasten aus erdachte. Immer wieder wurden seitdem die Sinfonien neu instrumentiert oder mit Retuschen versehen - etwa von Gustav Mahler (mit 355 Änderungen bei der 2. Sinfonie). Das Problem der Schumann-Sinfonien ist kurz umrissen: Die meisten Komponisten komponieren Dynamik. Fortissimo-Passagen werden von vielen Instrumenten gespielt, besonders die kraftvollen Blechbläser treten hervor, leise Stellen sind minimalistisch besetzt.
Bei Schumann aber spielen tendenziell alle Musiker ständig. Dynamik ist damit eine Sache der Spielweise, der Interpretation. Eine schwere Aufgabe - die der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen allerdings unfassbar gut gelang. Bei Schumanns Zweiter wuchsen die Musiker schier über sich hinaus, bei Fortissimo-Einsätzen riss es die Musiker fast schon von den Stühlen, im Pianissimo, wie in der fugenartigen Passage im langsamen Satz, formten sie die Töne haarscharf an der Hörbarkeitsgrenze. Und Paavo Järvi ließ den Klang strömen, die Streicher produzierten sinnlich-weichen Glanz, die fantastischen Holzbläser brachten ihre Instrumente förmlich zum Singen.
Der bisherige Höhepunkt der diesjährigen Sommerkonzerte hätte diese Schumann-Sinfonie sein können, wenn es da nicht noch das Tschaikowsky-Violinkonzert gegeben hätte mit der Festivalleiterin Lisa Batiashvili als Solistin.
Erst spät in ihrer Laufbahn hat sich die Georgierin dem süffigen Konzert zugewandt. Inzwischen ist es vielleicht ihr größter Erfolg, weil sie genau das richtige Maß findet zwischen traumschön schmelzender Tonschönheit und fast aggressiver, energiegeladener Rasanz. Während sie den ersten Satz noch verhalten nahm, der Druck aufs Tempo eher von Paavo Järvi ausging, und den langsamen Satz poetisch zart formte, liefen die Musiker im Finalsatz zur Höchstform auf. Lisa Batiashvili duckte sich in der Kadenz geradezu, als wollte sie sich langsam an das sprudelnde Thema anschleichen, fetzte über die Saiten, verlangsamte urplötzlich das Tempo, um dann in geradezu höllischem Tempo in den Hauptteil des Satzes einzusteigen. Ein aberwitziges Rennen gegen die Zeit begann, ein Lauf gegen die Gesetze der Physik, eine Demonstration schier übermenschlicher Präzision.
Die Spannung bei diesem Konzert lag fast erdrückend im Saal. Lisa Batiashvili musste das gespürt haben, diese Heimspiel-Atmosphäre, bei der es um alles ging und um jeden einzelnen Ton. In diesem Moment war Lisa Batiashvili Weltstar und zugleich ganz und gar Ingolstädterin. Nachdem der letzte Ton verklungen war, kannte die Begeisterung des Publikums kaum Grenzen, die Besucher sprangen von ihren Sitzen auf, jubelten, pfiffen und riefen Bravo. Und die Geigerin? Strahlte völlig erschöpft, blickte dann überrascht, ja fast verlegen den Menschen entgegen, die sie zu Tränen gerührt hatte. Ein großer, hochemotionaler Augenblick für Ingolstadt und für die Audi-Sommerkonzerte.
https://www.donaukurier.de/nachrichten/kultur/Heimspiel-fuer-einen-Star-aus-Ingolstadt;art598,4243004
Explosives Temperament: Lisa Batiashvili spielt das Tschaikowsky-Violinkonzert, Paavo Järvi dirigiert.
SauerDas bemerkt man sofort bei der Probenarbeit, egal, ob jetzt Chefdirigent Paavo Järvi vor den Musikern steht oder ein Gast wie Jérémie Rhorer. Da gibt der Orchesterleiter etwa ein paar Anweisungen, sofort erinnert die Konzertmeisterin die zweiten Geigen daran, dass auch sie an einer Stelle etwas zu spät einsetzen, und der Klarinettist sagt, man sollte hier schon sehr prägnant musizieren, allerdings nicht so laut. Paavo Järvi kommentiert die Bemerkungen nicht.
Was ist das? Ein Orchester, bei dem jeder einfach so mitreden kann? Kratzt das nicht an der Autorität des Pultstars? Kann man so arbeiten?
"Wir sind ein selbstorganisierter Klangkörper", erläutert Bratscher und Orchestervorstand Jürgen Winkler. "Jeder von uns ist sehr aktiv am Gestaltungsprozess beteiligt. Paavo Järvi nimmt das gut auf. Ideen, die aus dem Orchester kommen, blockt er nicht ab, sondern integriert sie in sein Konzept. " Nur unsichere Dirigenten hätten damit Schwierigkeiten. Und er fügt noch hinzu: "Früher haben wir noch viel mehr hereingeredet, aber inzwischen hat sich das auf ein vernünftiges Maß reduziert. "
Paavo Järvi (56) ist bereits seit 2004 Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie. Zusammen sind Orchester und Dirigent gewachsen, heute gilt Järvi als einer der am höchsten gehandelten Orchesterleiter überhaupt. Außer den Bremern leitet er noch Japans bestes Orchester, das NHK Symphony Orchestra, und ab der kommenden Saison das hoch angesehene Tonhalle-Orchester Zürich.
Mit der demokratischen Gesinnung der Kammerphilharmonie hat der aus Estland stammende Dirigent keine Probleme: "Es ist einfacher mit einem solchen Orchester", sagt er. "Es gibt hier einen Sense of Ownership. Wenn man seinen eigenen Laden hat, dann guckt man bei der Arbeit nicht auf die Uhr, sondern tut das, was nötig ist. "
Die musikalische Demokratie hat allerdings ihre Kehrseiten. Gerade in den Anfangsjahren ist das 1980 von Studenten gegründete Orchester mehrfach dicht an der Pleite vorbeigeschrammt. Inzwischen werden 40 Prozent der Einnahmen des Orchesters von Sponsoren übernommen. Zudem gibt es Unterstützung von der Stadt Bremen.
An die Zusammenarbeit mit der Geigerin Lisa Batiashvili haben die Orchestermitglieder nur gute Erinnerungen. "Sie ist eine große Geigerin", sagt Jürgen Winkler. Und er erinnert an eine Anekdote, die sich vor über zehn Jahren in Bonn zugetragen hat. Damals fiel ein Dirigent aus, und es fand sich so schnell kein Ersatz. Also musizierte das Orchester das Beethoven-Violinkonzert mit Lisa Batiashvili ohne Orchesterleiter - und alles funktionierte so gut, dass man die Version dann auch auf CD einspielte. Diese Erfahrung hat das Orchester geprägt. Diesmal hat Paavo Järvi dem Orchester lachend zugerufen: "Das klappt so gut, ihr könnt auch ohne Dirigenten auftreten. "
Tatsächlich ist in jedem Augenblick die Unabhängigkeit, die unbändige Leidenschaft dieses Orchesters, das so sehr für seine eigenen Geschicke verantwortlich ist, zu spüren. Die Musiker sitzen förmlich auf der Stuhlkante beim Musizieren, sie geben alles. Man wagt es kaum zu schreiben, aber da wirken sogar die viel berühmteren BR-Symphoniker, die bei den Sommerkonzerten am Sonntag ein bewegendes Konzert gaben, fast ein wenig beamtig verglichen mit dem Feuereifer der Bremer.
Peter Tschaikowskys Violinkonzert und Werke von Robert Schumann standen am Freitagabend auf dem Programm des Konzertes im Rahmen der Audi-Sommerkonzerte. Schumann ist fast schon ein Hausgott für das Orchester - neben Beethoven, mit dessen Sinfonien die Musiker sich das größte Ansehen erspielen konnten. "Schumann liegt in unserer DNA", sagt Järvi. Und: "Ich mag Schumann einfach. "
Aber Schumann ist ein komplizierter Komponist. Schon kurz nach Erscheinen seiner Sinfonien setzte eine ebenso dauerhafte wie letztlich unergiebige Diskussion über die vermeintliche Unfähigkeit Schumanns ein, Orchestermusik zu instrumentieren. Der Romantiker galt als verhinderter Pianist, der seine Kompositionen von den schwarz-weißen Tasten aus erdachte. Immer wieder wurden seitdem die Sinfonien neu instrumentiert oder mit Retuschen versehen - etwa von Gustav Mahler (mit 355 Änderungen bei der 2. Sinfonie). Das Problem der Schumann-Sinfonien ist kurz umrissen: Die meisten Komponisten komponieren Dynamik. Fortissimo-Passagen werden von vielen Instrumenten gespielt, besonders die kraftvollen Blechbläser treten hervor, leise Stellen sind minimalistisch besetzt.
Bei Schumann aber spielen tendenziell alle Musiker ständig. Dynamik ist damit eine Sache der Spielweise, der Interpretation. Eine schwere Aufgabe - die der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen allerdings unfassbar gut gelang. Bei Schumanns Zweiter wuchsen die Musiker schier über sich hinaus, bei Fortissimo-Einsätzen riss es die Musiker fast schon von den Stühlen, im Pianissimo, wie in der fugenartigen Passage im langsamen Satz, formten sie die Töne haarscharf an der Hörbarkeitsgrenze. Und Paavo Järvi ließ den Klang strömen, die Streicher produzierten sinnlich-weichen Glanz, die fantastischen Holzbläser brachten ihre Instrumente förmlich zum Singen.
Der bisherige Höhepunkt der diesjährigen Sommerkonzerte hätte diese Schumann-Sinfonie sein können, wenn es da nicht noch das Tschaikowsky-Violinkonzert gegeben hätte mit der Festivalleiterin Lisa Batiashvili als Solistin.
Erst spät in ihrer Laufbahn hat sich die Georgierin dem süffigen Konzert zugewandt. Inzwischen ist es vielleicht ihr größter Erfolg, weil sie genau das richtige Maß findet zwischen traumschön schmelzender Tonschönheit und fast aggressiver, energiegeladener Rasanz. Während sie den ersten Satz noch verhalten nahm, der Druck aufs Tempo eher von Paavo Järvi ausging, und den langsamen Satz poetisch zart formte, liefen die Musiker im Finalsatz zur Höchstform auf. Lisa Batiashvili duckte sich in der Kadenz geradezu, als wollte sie sich langsam an das sprudelnde Thema anschleichen, fetzte über die Saiten, verlangsamte urplötzlich das Tempo, um dann in geradezu höllischem Tempo in den Hauptteil des Satzes einzusteigen. Ein aberwitziges Rennen gegen die Zeit begann, ein Lauf gegen die Gesetze der Physik, eine Demonstration schier übermenschlicher Präzision.
Die Spannung bei diesem Konzert lag fast erdrückend im Saal. Lisa Batiashvili musste das gespürt haben, diese Heimspiel-Atmosphäre, bei der es um alles ging und um jeden einzelnen Ton. In diesem Moment war Lisa Batiashvili Weltstar und zugleich ganz und gar Ingolstädterin. Nachdem der letzte Ton verklungen war, kannte die Begeisterung des Publikums kaum Grenzen, die Besucher sprangen von ihren Sitzen auf, jubelten, pfiffen und riefen Bravo. Und die Geigerin? Strahlte völlig erschöpft, blickte dann überrascht, ja fast verlegen den Menschen entgegen, die sie zu Tränen gerührt hatte. Ein großer, hochemotionaler Augenblick für Ingolstadt und für die Audi-Sommerkonzerte.
https://www.donaukurier.de/nachrichten/kultur/Heimspiel-fuer-einen-Star-aus-Ingolstadt;art598,4243004
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