Hirtenmädchen und Frühlingsfliegen: beim Pärnu Music Festival werden selbst ungeprobte Zugaben nicht zur valse triste
klassiker.welt.de
Ein letztes Mal geht es zwischen all dem Grün und den entspannten Urlaubern per Pedal hin zur Konzerthalle an der Innenseite der Strandhalbinsel. Das Abschlussprogramm des erstaunlich in diesen Jahren klanglich zusammengewachsenen Estonian Festival Orchestra würde wohl kaum ein Veranstalter buchen – obwohl Järvis Musiksturmtruppe inzwischen schon das Baltikum, Europa und dieses Jahr Japan bereist hat; 2020 sind sogar die teuren USA für eine Tournee fest in Planung. Es beginnt – er ist schließlich Composer in Residence – einmal mehr mit Musik von Erkki-Sven Tüür. „Sow the Wind“ ist ein still beginnender, sich aggressiv, aber machtvoll orchestriert steigernder Zwanzigminüter, über den Zustand der Wind säenden und stürme erntenden Welt. Nicht platt, eher hilflos, aber nachdrücklich melancholisch anklagend.
Und ähnlich depressiv, aber von der schönsten Art, geht es weiter: Ain Anger arbeitet sich skrupulös wie suggestiv durch die vier „Lieder und Tänze des Todes“ Modest Mussorgskys. Zu hören war nicht die strohige Orchestrierung von Schostakowitsch, sondern die schmiegsamere, klangfarbenfeinere von Kalevi Aho. Anger hat die seltene Fähigkeit aus diesen schrecklichen Geschichten geisteswache Zustandsbeschreibungen erstehen zu lassen, das Anekdotische wächst sich ins Allgemeine aus, packt und lässt nicht mehr los. Ein selten präsenter Interpret, dem das nur mit stimmlichen Mitteln gelingt.
Nach der Pause dann das große, freundvoll explodierende Finale mit Peter Tschaikowskys 2. Sinfonie, der Ukrainischen oder Klein-Russischen. In eine einstmals besetzten Land immer noch mit einer gewissen Delikatesse zu genießen. Das Orchester verbeißt sich förmlich in schönste Hornsoli und wiegende Folklorismen, zackig markante Marschrhythmen und zum Finale in das Große Tor von Kiew, das sich auch hier zu den Klangbildern einer Tschaikowsky-Ausstellung wölbt und öffnet. Paavo Järvi hat das bestens im Griff, treibt an, hält zurück. Es darf auch mal grell werden, doch der mattierte Feinklang des Ensembles ist stets zu spüren. Das explodiert schließlich in einer Apotheose des Blechs, Tschaikowsky-Orgasmus pur. Aber keiner stirbt hier kleine Tode, alle sind begeistert.
Und, man muss ja schließlich weiterdenken, am 2. Oktober startet Paavo Järvi in Zürich als neuer Chef des Tonhalle Orchesters. Diese meisterlich extrovertierte wie intime Interpretation macht Lust auf den dort nächste Saison auch als Aufnahmeprojekt startenden Tschaikowsky-Zyklus. Und dann ist ja auch schon wieder Sommer, und das 10. Pärnu Jubiläumsfestival wartet. „Das wahrlich kein Endpunkt werden soll, sondern ein neuer Anfang“, wie Paavo Järvi allen zum Abschied verspricht. Wir werden ihn beim Wort nehmen.
http://klassiker.welt.de/2019/07/22/hirtenmaedchen-und-fruehlingsfliegen-beim-paernu-music-festival-werden-selbst-ungeprobte-zugaben-nicht-zur-valse-triste/#more-8543
Manuel Brug
22.07.2019
„Dieses Festival ist nur ein Vorwand, gute Freunde zu versammeln und gemeinsam mit ihnen diesen Ort tief in unserem Herz zu verankern.“ Paavo Järvi sagt es sehr schön und sehr ehrlich in seiner Schlussansprache nach getaner Pärnu Music Festival-Arbeit. Das letzte Konzert der 2019-Ausgabe ist vorbei, die Kräfte sind erschöpft, die Gemüter glücklich. Auch weil man schließlich noch gemeinsam durch den Rausch von drei – ungeprobten – gleichwohl fantastisch gespielten Zugaben gegangen ist. Nach einer bezwingend pianissimo gewisperten Valse triste von Sibelius, folgte der hirtenmädchen-fitzelige „Vlallflickans dans“ aus der Bergakungen Suite von Hugo Alfén und schließlich, der Beifall zum in Estland superpopulären bekannten Klarinettensolo war so spontan, dass selbst der abgebrühte Matthew Hunt erstmal herzlich lachen musste, der Walzer aus dem Film „Die Frühlingsfliege“ von Lepo Sumera. Aber vorher schon musste zur Pause hin der Este Ain Anger, längst eine Bassurgewalt auf allen Wagner- Verdi- und Mussorgsky-Opernbühnen der Welt, die Gremin-Arie aus dem „Eugen Onegin“ wiederholen. Denn auch das enthusiastisch ausflippende Publikum hatte sich Beifallsmäßig so richtig eingegroovt.
Der letzte Festivaltag hatte mit dem traditionell nachmittäglichen Kinderkonzert in der hinreißenden Jugendstil-Villa Ammende begonnen, heute ein preziöses Boutique Hotel. In dem jetzt, locker über die verschiedenen, liebevoll ausgestatteten und restaurierten Gasträume und –Stuben verteilt, junge Musiker warten, um noch jüngeren Fans ihre Instrumente vorzuführen und dann kleine Stücke für sie zu spielen.
„Dieses Festival ist nur ein Vorwand, gute Freunde zu versammeln und gemeinsam mit ihnen diesen Ort tief in unserem Herz zu verankern.“ Paavo Järvi sagt es sehr schön und sehr ehrlich in seiner Schlussansprache nach getaner Pärnu Music Festival-Arbeit. Das letzte Konzert der 2019-Ausgabe ist vorbei, die Kräfte sind erschöpft, die Gemüter glücklich. Auch weil man schließlich noch gemeinsam durch den Rausch von drei – ungeprobten – gleichwohl fantastisch gespielten Zugaben gegangen ist. Nach einer bezwingend pianissimo gewisperten Valse triste von Sibelius, folgte der hirtenmädchen-fitzelige „Vlallflickans dans“ aus der Bergakungen Suite von Hugo Alfén und schließlich, der Beifall zum in Estland superpopulären bekannten Klarinettensolo war so spontan, dass selbst der abgebrühte Matthew Hunt erstmal herzlich lachen musste, der Walzer aus dem Film „Die Frühlingsfliege“ von Lepo Sumera. Aber vorher schon musste zur Pause hin der Este Ain Anger, längst eine Bassurgewalt auf allen Wagner- Verdi- und Mussorgsky-Opernbühnen der Welt, die Gremin-Arie aus dem „Eugen Onegin“ wiederholen. Denn auch das enthusiastisch ausflippende Publikum hatte sich Beifallsmäßig so richtig eingegroovt.
Der letzte Festivaltag hatte mit dem traditionell nachmittäglichen Kinderkonzert in der hinreißenden Jugendstil-Villa Ammende begonnen, heute ein preziöses Boutique Hotel. In dem jetzt, locker über die verschiedenen, liebevoll ausgestatteten und restaurierten Gasträume und –Stuben verteilt, junge Musiker warten, um noch jüngeren Fans ihre Instrumente vorzuführen und dann kleine Stücke für sie zu spielen.
Ein letztes Mal geht es zwischen all dem Grün und den entspannten Urlaubern per Pedal hin zur Konzerthalle an der Innenseite der Strandhalbinsel. Das Abschlussprogramm des erstaunlich in diesen Jahren klanglich zusammengewachsenen Estonian Festival Orchestra würde wohl kaum ein Veranstalter buchen – obwohl Järvis Musiksturmtruppe inzwischen schon das Baltikum, Europa und dieses Jahr Japan bereist hat; 2020 sind sogar die teuren USA für eine Tournee fest in Planung. Es beginnt – er ist schließlich Composer in Residence – einmal mehr mit Musik von Erkki-Sven Tüür. „Sow the Wind“ ist ein still beginnender, sich aggressiv, aber machtvoll orchestriert steigernder Zwanzigminüter, über den Zustand der Wind säenden und stürme erntenden Welt. Nicht platt, eher hilflos, aber nachdrücklich melancholisch anklagend.
Und ähnlich depressiv, aber von der schönsten Art, geht es weiter: Ain Anger arbeitet sich skrupulös wie suggestiv durch die vier „Lieder und Tänze des Todes“ Modest Mussorgskys. Zu hören war nicht die strohige Orchestrierung von Schostakowitsch, sondern die schmiegsamere, klangfarbenfeinere von Kalevi Aho. Anger hat die seltene Fähigkeit aus diesen schrecklichen Geschichten geisteswache Zustandsbeschreibungen erstehen zu lassen, das Anekdotische wächst sich ins Allgemeine aus, packt und lässt nicht mehr los. Ein selten präsenter Interpret, dem das nur mit stimmlichen Mitteln gelingt.
Nach der Pause dann das große, freundvoll explodierende Finale mit Peter Tschaikowskys 2. Sinfonie, der Ukrainischen oder Klein-Russischen. In eine einstmals besetzten Land immer noch mit einer gewissen Delikatesse zu genießen. Das Orchester verbeißt sich förmlich in schönste Hornsoli und wiegende Folklorismen, zackig markante Marschrhythmen und zum Finale in das Große Tor von Kiew, das sich auch hier zu den Klangbildern einer Tschaikowsky-Ausstellung wölbt und öffnet. Paavo Järvi hat das bestens im Griff, treibt an, hält zurück. Es darf auch mal grell werden, doch der mattierte Feinklang des Ensembles ist stets zu spüren. Das explodiert schließlich in einer Apotheose des Blechs, Tschaikowsky-Orgasmus pur. Aber keiner stirbt hier kleine Tode, alle sind begeistert.
Und, man muss ja schließlich weiterdenken, am 2. Oktober startet Paavo Järvi in Zürich als neuer Chef des Tonhalle Orchesters. Diese meisterlich extrovertierte wie intime Interpretation macht Lust auf den dort nächste Saison auch als Aufnahmeprojekt startenden Tschaikowsky-Zyklus. Und dann ist ja auch schon wieder Sommer, und das 10. Pärnu Jubiläumsfestival wartet. „Das wahrlich kein Endpunkt werden soll, sondern ein neuer Anfang“, wie Paavo Järvi allen zum Abschied verspricht. Wir werden ihn beim Wort nehmen.
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