Paavo Järvi im Interview «Empathie lernt man nicht an der Business School»

Tages AnzeigerSusanne Kübler15.04.2020

Der Tonhalle-Chefdirigent bereitet sich in London auf Konzerte vor, die vielleicht nicht stattfinden. Und wünscht sich dringend mitfühlendere Politiker.

Paavo Järvi, Sie sind normalerweise mehr unterwegs als zu Hause. Wie halten Sie die Pause aus?Ich hatte wohl tatsächlich seit mindestens zehn Jahren nicht mehr so viel Zeit wie jetzt. Es ist seltsam. Aber auch sehr angenehm. Man beginnt anders zu denken, wenn man nicht ständig herumrennt. Freier, kreativer, weniger aufs Praktische bezogen. Ich merke, dass mir das gefehlt hat.

Was vermissen Sie denn jetzt?Die Flughäfen sicher nicht. Aber das aktive Musikmachen fehlt mir schon – nicht einmal so sehr die Konzerte, aber die Proben. Die Atmosphäre dort, der ganze Prozess der Vorbereitung auf eine Aufführung.

Ein Geiger kann zu Hause üben, ein Dirigent nicht.Nein, wir sind vollkommen abhängig von den Orchestern. Ich könnte mich natürlich ans Klavier setzen, aber das ist nicht dasselbe. Es gibt keine Abkürzungen in meinem Job. Viele junge Dirigenten fragen mich deshalb derzeit, wie sie üben können.

Und?Früher hat man ja immer gesagt, ein ernsthafter Dirigent hört sich auf keinen Fall «fremde» Aufnahmen an, der studiert die Partitur. Dabei lernt man so viel beim Hören! Ich selbst höre derzeit ständig Musik, mehr denn je. Schon zum Frühstück.

Was hören Sie denn morgens?Oft Dinge, die ich noch nicht kenne, in den letzten Tagen etwa diverseneuere Stücke von John Adams; ich wollte einfach wissen, was ich verpasst habe in den letzten Jahren. Ich will informiert sein, mir eine Meinung bilden können. Auch Jazz höre ich immer viel. Im Moment auch Bossa Nova. Oder heute eine alte Genesis-Platte, aus der Zeit, als Peter Gabriel noch dabei war. Und dann sind da all die Streamings: Diabelli-Variationen mit Barenboim, brillant. Oder Archivaufnahmen der Münchner Philharmoniker mit Celibidache, die kannte ich nicht.

Also keine Langeweile?Ich kann wirklich nicht verstehen, wenn jemand über Langeweile klagt. Ich glaube, mir war noch nie im Leben langweilig, und das hat sehr viel mit der Musik zu tun. Sie ist ein Freund, der immer da ist. Das merken gerade jetzt viele, die allein sind.

Tatsächlich ist die Musik derzeit für viele sehr wichtig. Die Menschen singen auf den Balkonen, stellen Hauskonzerte ins Netz.Ja, es scheint in dieser Krise nichts zu geben, was so direkt wirkt wie die Musik. Wenn also jemand noch einen Beleg gebraucht hat für ihre Bedeutung: Hier ist er. Viele wollen auch über Musik sprechen, etwas lernen. Ich erhalte so viele Anfragen von Leuten, nicht nur von Musikern, die über Brahms diskutieren wollen. Oder eben übers Dirigieren. Es haben alle so genug davon, immer nur über das Virus zu reden! Ich habe deshalb angefangen, solche Fragen in einem Onlinetalk zu beantworten. Auch das gehört zu dieser Krise: dass man Dinge tut, auf die man früher nie gekommen wäre. 

Man sieht Sie bei diesen Talks vor einem Kamin sitzen. Andere Musiker spielen in Socken Klavier oder haben zweifelhafte Kunst an den Wänden. Was macht das mit einer Kunstform, die auch optisch so streng ritualisiert ist?Genau das gefällt mir an diesen Streams, dass man menschlich sehr vieles mitbekommt. Es ist alles sehr entspannt. Vielleicht ist es ein guter Moment, um neues Publikum zu gewinnen. Die Menschen sind für vieles offen derzeit.

Wird die Krise das Image der klassischen Musik verändern?Ich hoffe es. Wenn man sieht, wie sich die Welt in letzter Zeit entwickelt hat, kann man zwar skeptisch werden. Da hatte man ja schon zuweilen den Eindruck, dass die Menschen die Lektionen der Vergangenheit sehr rasch wieder vergessen haben. Aber ich bin kein Pessimist, im Gegenteil. Ich hoffe wirklich, dass etwas Gutes zurückbleibt.


Was könnte das sein?Die Erkenntnis, wie wichtig musikalische Bildung ist. Ich bin überzeugt davon, dass eine frühe Auseinandersetzung mit Musik oder mit Kunst allgemein mitfühlendere, intelligentere Menschen hervorbringen würde. Und Politiker, die ihre Länder besser führen könnten als unsere heutigen. Ich rede nicht von der Schweiz; aber in den USA und auch hier in England sieht man gerade, was es bedeutet, wenn unkultivierte Leute am Ruder sind, Menschen ohne Empathie. Diese Empathie lernt man nicht an der Business School, auch nicht in den Wissenschaften, sondern durch Kultur. Durchs Zuhören, durch die Auseinandersetzung mit subtilen, tiefgründigen Dingen.

Bis diese Auseinandersetzung wieder live stattfinden kann, wird es dauern.Ja, Konzerte und Sportveranstaltungen werden wohl die letzten Dinge sein, die wieder erlaubt werden. Vielleicht werden wir erst in kleinem Rahmen öffnen müssen. Man weiss es nicht.


Wie bereiten Sie sich darauf vor?

Ich arbeite jeden Tag. In Tokio ist die «Carmen» geplant, in Zürich Beethovens «Fidelio», in Bremen seine «Missa solemnis». Ich weiss nicht, ob diese Aufführungen stattfinden werden, aber ich muss vorbereitet sein.

In Zürich werden Sie auch Tschaikowsky-Sinfonien nachholen müssen, wenn die begonnene Gesamtaufnahme vollendet werden soll.Ja, wir werden sehen, wie sich die fehlenden Werke sinnvoll in die zukünftigen Programme einpassen lassen. Aber wir werden die Aufnahme sicher fertig machen, und ich habe überhaupt keine Sorge, dass das Momentum dafür vorbei sein könnte. Es ist wie bei einem Champagnerkorken: Wenn wir wieder starten können, werden wir explodieren vor Energie.


https://www.tagesanzeiger.ch/empathie-lernt-man-nicht-an-der-business-school-857895803187



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