»Ich verstehe nicht, wie jemand völlig unpolitisch sein kann.«

Paavo Järvi zählt zu den umtriebigsten und interessantesten Dirigenten seiner Generation. Musikalisch bestimmen eine stete Neugier und gleichzeitig umsichtige Durchleuchtung der Werke seine Arbeit, wodurch seinen Interpretationen eine wohltuende Kombination aus Intellektualität und – wie im Falle Gustav Mahlers – berstender Spontaneität innewohnt. Öffentlich ist er neben seinen Dirigaten auch mit seiner klaren politischen Haltung gegen den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine anzutreffen, die er etwa bei Instagram täglich kundtut.
Geboren und aufgewachsen in Tallinn, musste er mit seiner Familie, zu der als Vater auch der Dirigent Neeme Järvi gehört, 1980 die Sowjetunion aus politischen Gründen verlassen. Gemeinsam emigrierten sie in die USA, wo Paavo Järvi seine Ausbildung bei Leonard Bernstein fortsetzen konnte. Nach Chefposten beim Cincinnati Symphony Orchestra und in Frankfurt beim hr-Sinfonieorchester gelang ihm 2009 mit seiner staubaufwirbelnden Gesamteinspielung aller Beethoven-Sinfonien mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen ein Meilenstein der Beethoven-Deutung. 2011 gründete er in seinem Heimatland das Estonian Festival Orchestra, mit dem er auch das jährlich stattfindende Musikfestival in der estnischen Hafenstadt Pärnu bestreitet, das zu einem Geheimtipp für die Musik des Baltikums geworden ist. Seit 2019 ist Järvi zudem Music Director des Tonhalle-Orchesters Zürich, mit dem er derzeit einen neuen Mahler-Zyklus aufnimmt und aktuell mit der 2. Sinfonie, der »Auferstehungssinfonie« durch die Konzerthäuser tourt. Ich treffe ihn in Köln.
VAN: Im Moment sind Sie mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und viel Mahlerauf Tournee: in Wien, in Baden-Baden, wo Sie gerade gemeinsam eine dreijährige Residence beginnen, hier in Köln und zu Hause in Zürich, morgen geht’s nach Paris. Ein anstrengender Zeitplan mit atemraubender Musik, wie geht es Ihnen da körperlich und mental? Ist es nicht belastend, so viel Mahler um sich zu haben?
Paavo Järvi: Es fühlt sich ganz natürlich an. Ich bin das gewohnt – ich mache das ja seit vierzig Jahren. Für mich ist es eigentlich das Organischste überhaupt: unterwegs zu sein und gute Musik zu machen. Das ist mein natürlicher Zustand, darin bin ich am besten.
Sie haben schon damals während Ihrer Zeit in Frankfurt als Chefdirigent des HR viel Mahler dirigiert. Und jetzt fallen mir einige neue Stimmen in Ihren Interpretationen auf, gerade auf Tour mit der zweiten Sinfonie, der ›Auferstehungssinfonie‹, aber auch in den bereits veröffentlichtenProduktionen mit der fünften und jetzt der ersten Sinfonie, mit der Tonhalle Zürich. Mir scheint, es gibt unter anderem mehr Struktur – und eine größere Lust an den vielen Nebenstimmen, also den Stimmen, die etwas verborgen in der Partitur sind. Würden Sie sagen, dass Sie immer wieder Neues bei Mahler entdecken?
Immer. Ja, immer wieder. Es ist weniger Detektivarbeit als ein natürlicher Entwicklungsprozess. Ich erkenne Dinge in der Partitur, die mir früher gar nicht aufgefallen sind – oder ich habe sie gesehen, aber nicht für so wichtig gehalten. Bestimmte Elemente werden mit zunehmendem Alter wichtiger: die inneren Stimmen, die harmonischen Veränderungen, emotionale Übergänge, das Timing von espressivo-Momenten – all das ist heute anders als vor fünfzehn Jahren. Aber es ist keine bewusste Entscheidung, ›anders‹ zu sein; es geschieht einfach – so wie man sich als Musiker und Mensch weiterentwickelt.
Bei Mahler steckt Bedeutung hinter jeder Note; er hatte einen Grund für alles, was er notierte. Manchmal denkt man: Diese Verdopplung ergibt doch keinen Sinn! Warum hat er das geschrieben? Und doch steht da jede Note in seiner Handschrift. Also beginnt man zu überlegen: Wenn Mahler wirklich genau das schreibt, dann muss es wichtig sein; dann sollten wir genauer hinschauen, wie es sich ins Ganze fügt. Natürlich gehört dazu auch meine Aufgabe als Dirigent: diese Details hörbar zu machen – nicht nur zu finden, sondern sie ins richtige Verhältnis zum Gesamtbild zu setzen. Das große Ganze wird umso interessanter und reicher, wenn man nicht nur das Offensichtliche hervorhebt.
Könnten wir gemeinsam ein kurzes Beispiel aus der fünften Symphonie anhören? Es geht ja bei Mahler immer um seine von ihm auch so benannte Idee der Deutlichkeit. Und diesmal habe ich Dinge gehört, die mir vorher nie aufgefallen sind.

Nun, das ist genau die Aufgabe des Dirigenten. [grinst] Also zum Beispiel hier dieses Scherzo der Fünften – da steckt besonders am Ende nach diesem großen Hornsolo unglaublich viel Struktur drin. All diese leisen Akzente stehen tatsächlich in Mahlers Partitur. Es ist nur eine Frage, wie stark man sie hervorheben möchte. Ich finde, diese Akzente schaffen einen spannenden Kontrast zwischen dem frei gespielten Hornsolo und einer fast kadenzartigen Deklamation desselben Solos. Dadurch entstehen zwei unterschiedliche Charaktere: Einer wirkt wie eine freie Rede, der andere hat etwas Formales, fast Zelebrierendes. Aber dabei darf man niemals den Rhythmus verlieren – sonst verliert die Passage ihren Charakter. Und das Entscheidende ist: Mahler schreibt all das ganz genau hinein.
Ein anderes Element, das vielleicht nicht immer ausdrücklich in der Partitur steht, ist eine gewisse Ironie oder vielleicht auch etwas Schelmisches. Ich höre davon viel in Ihrem Dirigat, etwa im zweiten Satz der ersten Sinfonie.
Ja, davon gibt es tatsächlich viel. Das Entscheidende beim Dirigieren ist: Sobald man den musikalischen Text wirklich kennt, beginnt ja erst die eigentliche Interpretation. Dann geht es um Entscheidungen – darum, wie man etwas sagt. Und mit zunehmendem Alter wächst der Mut, Charaktere stärker zu überzeichnen – Figuren oder Stimmungen, die man früher schon spüren wollte. Ich wollte all diese Dinge immer mit mehr Ausdruck hören: mit mehr Charme, manchmal mit mehr Ironie und gelegentlich auch mit absurden Überraschungen. Mahler schreibt zum Beispiel pianissimo und plötzlich steht da ein fortissimo in der Flöte – aber oft hört man das gar nicht richtig! Ich bin inzwischen an dem Punkt, an dem ich genau das tue, was ich will – allerdings nicht aus Willkür, sondern weil es in der Partitur steht und ich es sonst nie deutlich genug höre. Also übertreibe ich bewusst und achte darauf, dass jede Note ihren eigenen Charakter bekommt. Wenn jemand sagt: ›Aber hier steht doch piano!‹ – dann antworte ich: Piano bedeutet gar nichts, entscheidend ist wie man etwas leise sagt. Im Leisen muss es sogar noch präziser artikuliert, noch klarer phrasiert und besonders sorgfältig im Timing sein, damit es wirklich Wirkung hat. All das sind interpretatorische Entscheidungen. Manche Musiker werden im Alter konservativer – bei mir scheint es genau andersherum zu sein.
Sie meinen also, Ironie ist wichtig, um Mahler zu verstehen?
Absolut. Mahler schreibt keine bloßen Noten – er schreibt Geschichten. Seine Musik erzählt, sie beginnt immer mit einer Handlung. Schon am Anfang der siebten Symphonie: Jam, ba-ka-dum, ba-ka-dum! [singt] – da geht die Geschichte los! Es sind nicht einfach Töne oder rhythmische Figuren. Viele sagen: ›Das muss man kürzer spielen.‹ Nein. Das muss wie ein militärischer Trommelrhythmus klingen: Wenn man dabei kein Bild sieht – etwa ein Feld voller Soldaten –, dann stimmt etwas nicht. Es geht darum, sofort zu erzählen; jede Passage bei Mahler trägt eine Art Narrativ in sich. Mahler komponiert nicht abstrakt – er erzählt uns von Menschen, Situationen und Emotionen. Seine Partituren sind musikalische Geschichten.
Vielleicht hören wir noch ein Stück aus diesem zweiten Satz der Ersten. Welche Geschichte verbirgt sich dort bei Mahler? Sie nehmen sich viel Zeit dafür.

Ja… [hört zu] – das ist ganz gut. [grinst] Mahler schreibt zum Beispiel am Ende der Klarinette eine kleine Pause hinein. Er notiert es genau so, weil er selbst Dirigent war und wusste: Sonst würden die Musiker einfach weiterspielen. Es ist sein Versuch, einen typisch wienerischen Tonfall auszuschreiben. Im Grunde gilt: Wer Johann Strauss und die ganze Welt der Strauss-Familie nicht liebt – und ich spreche nicht nur von Johann, ich persönlich bin ein großer Fan von Josef Strauss –, sollte eigentlich keinen Mahler dirigieren. Denn wenn man keinen echten »Kick« bekommt von diesen wienerischen Feinheiten, den unmerklichen Rubati, den Farben, der Süße und der leichten Verbindung zu allem, was östlich von Wien liegt, dann versteht man Mahlers innere Welt nicht wirklich.
Dieses Verständnis des Wienerischen ist wesentlich. Mahler war nicht immer in Liebe mit seiner Stadt; manchmal hasste er sie sogar – das hört man in manchen Scherzi oder absurden Momenten seiner Musik. Aber er wusste genau, was Wien bedeutet, und schrieb es bewusst in seine Partituren. Das Problem heute ist unsere Ausbildung: Lehrer sagen ständig: ›Das ist geschmacklos‹, ›so darf man das nicht machen‹, ›kein glissando!‹, ›nicht übertreiben!‹ – durch diese Art des ›Säuberns‹ geht all der Charme verloren, der mit formaler Ausbildung nichts zu tun hat. Niemand aus den alten Wiener Kaffeehäusern besuchte ein Konservatorium – sie spielten einfach.
Ihr anderer Lieblingskomponist in diesem Jahr ist Arvo Pärt. Wie passen Mahler und Pärt zusammen?
Gar nicht. Ich glaube nicht, dass es da eine wirkliche Verbindung gibt – außer vielleicht darin, dass beide sehr eigenständig sind. In Wahrheit liegen Welten zwischen ihnen. Aber Arvo Pärt ist ebenso ein großartiger Komponist, weil man seine musikalische Sprache sofort erkennt und versteht. Das ist etwas, was nur ganz wenige Komponisten des 20. oder 21. Jahrhunderts erreicht haben – viele verspüren diesen Drang gar nicht mehr: etwas Neues zu schreiben, das gleichzeitig eine Verbindung zur menschlichen Seele herstellt. Arvo Pärts Musik berührt Menschen unmittelbar. Viele andere moderne Werke tun das nicht – und wollen es oft auch gar nicht. Sie wollen intellektuell anregen, interessant sein, herausfordern. Und wissen Sie: Die vermeintlich ›einfache‹ Musik ist in Wahrheit die schwierigste.
Ist Arvo Pärt neben diesen musikalischen Eigenschaften auch ein politischer Komponist?
Nein, das glaube ich nicht direkt. Aber seine Verbindung zu Estland, seinem Geburtsland, hängt untrennbar mit Politik zusammen – mit dem politischen System der Sowjetunion, in das er geboren wurde. Dieses System hat alles bestimmt; jeder Künstler musste sich – bewusst oder unbewusst – irgendwie mit Politik auseinandersetzen. Ich denke nicht, dass Pärt ein offen politischer Komponist war. Aber wenn man in der Sowjetunion nicht über Gott schreiben darf, keine religiösen Texte verwenden darf – und seine erste Kantate 1968 heißt dann Credo –, dann ist das natürlich eine Aussage. Ein Statement. Er war kein lautstarker Dissident wie manche anderen Künstler; nein, er war eher zurückgezogen und schrieb einfach seine Musik. Und trotzdem wurde sie am Ende politisch – sie machte die Behörden wütend –, obwohl das gar nicht seine Absicht war. Wenn man in einem totalitären Staat lebt, hat man eben die Wahl: Entweder spielt man nach den Regeln oder tut etwas, das als störend oder gefährlich wahrgenommen wird. Manche Menschen – wie auch Schostakowitsch zum Beispiel – haben ihr ganzes Leben unter genau diesen Bedingungen verbracht.

Und was ist mit Mahler? Gibt es eine politische Art, seine Musik zu hören?
Ich glaube nicht unbedingt, dass Mahlers Musik politisch ist. Mahler spricht vielmehr über die menschliche Existenz. Er zeigt, wie sich ein Mensch fühlt, wenn er in einer antisemitischen Gesellschaft lebt. Wie man sich verhalten muss, freundlich sein, höflich bleiben – umgeben von lauter Idioten. Genau darum geht es. Wenn Mahler in seiner dritten Symphonie schreibt: ›Was mir die Tiere im Wald erzählen‹, dann meint er keine Tiere. Er meint all die Menschen, denen er begegnen muss. Und es gibt später dieses kleine ›Bim-bam‹–Motiv, das Gott symbolisiert; einen christlichen Gott, an den Mahler selbst wohl nicht glaubte. Und daneben stehen die törichten Menschen und Tiere – alles Teil seiner eigenen Weltsicht. Mahler beschreibt also die Welt auf seine ganz persönliche Weise. Ich würde nicht sagen, dass sie offen politisch ist – sie beschreibt vielmehr den Zustand des Menschen.
Mahler vertont, wie Sie sagen, seine Gegenwart und auch all die Eindrücke vor seiner Zeit. Aber heute kennen wir auch seine spätere Familiengeschichte: Seine Nichte Alma Rosé gründete das Frauenorchester von Auschwitz und wurde dort ermordet. Können wir die ›Auferstehungssinfonie‹ überhaupt hören, ohne zu berücksichtigen, dass Teile von Mahlers Familie im Holocaust ausgelöscht wurden?

Es ist nicht direkt in der Musik. Die ›Auferstehungssinfonie‹ ist ein großes Thema – denn ich glaube nicht, dass Mahler tatsächlich an eine religiöse Auferstehung glaubte oder sich wirklich bekehrt und konvertiert hat. Das war eher Fassade. Wenn man genau hinschaut, geht es um etwas anderes. Es ist eher eine Art Psychoanalyse des Menschen. In dieser Musik findet sich das deutlichste jüdische Idiom überhaupt – und zugleich vieles Rätselhafte, das sich eigentlich ganz einfach verstehen lässt: all diese Choräle, die Posaunenrufe, die Pilger-Motive –, als würde jemand leise um die Ecke schleichen. Es geht dabei nicht um wörtliche Bedeutung. Ganz ähnlich wie im Finale der neunten Symphonie von Beethoven: Auch dort steckt eine Falle. Beethoven glaubte nicht wirklich daran, dass alle Menschen Brüder sind – höchstens alle weißen Männer, solange sie keine Türken oder Feinde sind. Der Kontext ist völlig anders als wir ihn heute lesen. Wir picken uns nur einzelne Dinge heraus, vieles bleibt ungesagt.
Aber selbst wenn Mahler nicht an eine religiöse Auferstehung glaubte, steckt hier in seiner Musik doch eine Vision von Hoffnung …
Absolut! Ja, es gibt dort eine viel größere Form von Auferstehung als die religiöse: nämlich den Glauben an den Menschen selbst – genau darum funktioniert diese Sinfonie bis heute. Nicht weil wir plötzlich alle Christen geworden wären – sondern weil sie Hoffnung für die Menschheit ausdrückt. Der Geist des Humanismus ist stärker als jede Dunkelheit. Auch wenn Mahler da wohl zu optimistisch war. Denn offenbar lernen wir nichts dazu; wir Menschen scheinen nicht besonders klug zu sein – es wiederholt sich gerade alles erneut.
Sie spielen diese beiden Komponisten – Mahler und Pärt – mit Ihren beiden Orchestern, dem Estonian Festival Orchestra und dem Tonhalle-Orchester Zürich. Sie kommen aus völlig unterschiedlichen Kontexten: Estland, das von Putin bedroht wird und sich offen gegen ihn stellt, und der Schweiz, wo man, wenn man möchte, völlig unpolitisch bleiben kann. Ist es nicht schwierig, in der Schweiz ein politischer Musiker zu sein?
Ich würde mich gar nicht mit einem Etikett wie ›politischer Musiker‹ versehen. Ich bin einfach ein Mensch, der reagiert – und der nicht in der Lage ist, nicht auf das zu reagieren, was in der Welt passiert. Besonders dann, wenn es so nah an den Grenzen meines eigenen Landes geschieht. Im Grunde fühle ich mich mit der Welt verbunden, in der ich lebe. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wie jemand völlig unpolitisch oder unbeteiligt sein kann. Natürlich gibt es verschiedene Stufen des politischen Engagements oder Aktivismus – darum geht es mir aber gar nicht. Ich spreche von einem grundlegenden Bewusstsein als Mensch. Meine Familie und ich, wir haben 1980 die Sowjetunion verlassen und jetzt schreiben wir das Jahr 2025 – und irgendwie kehren wir gerade zurück zum Faschismus: in den USA, in Russland und an vielen Orten Europas ebenfalls. Das erscheint mir unfassbar – wie ein schlimmer Traum.
Wenn man ein wenig auf die Geschichte der Schweiz blickt – im Ersten Weltkrieg war sie ja ein bedeutendes Zentrum für kulturelle Propaganda, aber auch für kulturellen Austausch. Es gab viele internationale Musiker vor Ort, zum Beispiel Oskar Fried, der dort für verwundete Soldaten Mahlers ›Auferstehungssinfonie‹ und Das Lied von der Erde dirigierte. Die Schweiz spielte damals kulturell eine enorme Rolle, auch um Verhandlungen der Kriegsparteien anzuregen. Wie ist das heute? Spüren Sie davon noch etwas? Oder ist es anders geworden?
Das ist schwer zu sagen. Die Schweiz hat ihre sogenannte Neutralität immer sehr sorgfältig bewahrt. Schweden war früher auch neutral – und hält sich bis heute dafür –, obwohl es inzwischen aus Angst vor Russland in die NATO eingetreten ist. Was bedeutet Neutralität also wirklich? Ich glaube, es ist eher eine Geisteshaltung: der Versuch, den Mittelweg zu finden und sich darin geschickt zu bewegen. Ich bin kein Schweizer und weiß nicht genau, wie es sich anfühlt, dort aufzuwachsen. Aber ich sehe: Das Land hat ein hohes Bildungsniveau; die Menschen sind gut darin, Wege nach vorn zu finden. Und natürlich befindet sich die Schweiz in einer besonderen Lage – ich würde sagen: Ein großer Teil des weltweiten Vermögens konzentriert sich dort. Deshalb fühlen sich die Menschen relativ sicher; niemand wird die Schweiz bombardieren, weil jeder sein Geld dort versteckt. Und glauben Sie mir: Auch heute noch lagern so manche russischen Gelder in der Schweiz – nur eben anders als früher. Irgendwie scheint mir die Schweiz bis heute einen Sonderstatus in Europa zu haben: Sie bezieht nicht so offen Partei wie andere Länder – und das ist ihr gutes Recht. Genau so hat sie überlebt.
Gibt es eine Verbindung zwischen dieser Haltung und Ihrer musikalischen Arbeit in Zürich?
Ich kann zum Beispiel jedes Programm machen, das ich möchte. Ich empfinde keine Einschränkungen. Die Tonhalle Zürich ist für mich der demokratischste, offenste und wunderbarste Ort überhaupt – künstlerisch wie menschlich. Natürlich gibt es persönliche Entscheidungen, nach denen ich mich richte. Ein Beispiel dafür ist die schwierige Frage, ob man russische Musik spielen sollte oder nicht. Das Thema ist längst nicht einfach so schwarz-weiß, wie viele denken oder möchten. Jeder muss sich von seinen eigenen ethischen Überlegungen leiten lassen. Man kann einem Schweizer oder einem Deutschen kaum vorwerfen, dass sie die Auswirkungen der russischen Aggression nicht vollständig verstehen – den Esten geht das anders. Wir haben eine direkte Grenze zu Russland; wir sind mehrfach überfallen worden; die Hälfte unserer Bevölkerung wurde nach Sibirien deportiert. Es gibt in Estland keine Familie – keine einzige! – deren Großvater oder Großmutter nicht dorthin verschleppt oder getötet wurde, auch in meiner Familie war das so. Deshalb ist unsere Beziehung zu Russland eine völlig andere.
Viele sagen dann: ›Aber die Russen haben Dostojewski und Tschaikowski.‹ Ja – und die Deutschen haben Wagner. Das ändert nichts daran, dass beide Nationen furchtbare Dinge getan haben und dazu fähig sind. Man darf das nicht verharmlosen. Es ist also kein einfaches Thema. Ich spiele russische Musik außerhalb von Estland – aber nicht inEstland, solange Russland Kinder, Wohnhäuser und Krankenhäuser in Kyjiw bombardiert. Das ist meine persönliche Entscheidung; ich zwinge sie niemandem auf und spreche auch kaum darüber – es ist einfach mein Empfinden. In Zürich hingegen spiele ich selbstverständlich Schostakowitsch. Er ist ein Sonderfall: ein anti-sowjetischer Komponist im inneren Exil innerhalb Russlands – ganz anders als etwa Dmitri Kabalewski oder andere offizielle sowjetische Komponisten. Solche Werke würde ich nicht aufführen.

Und all das spiegelt sich auch auf Ihrem Account auf Instagram wider.
Mein Social‑Media‑Account ist, nun ja, interessant. Er hat überhaupt keine Struktur. Für mich ist Social Media wie ein Spaziergang durch die Straße: Man sieht etwas, macht ein Foto, postet es. Aber ich poste fast nie schöne Dinge. Ich zeige meist das Absurde – Dinge, bei denen man kaum glauben kann, dass sie wirklich passieren. Deshalb reposte ich so viel über die Bombardierungen in der Ukraine: weil es unfassbar ist, dass wir hier in Europa zu Konzerten gehen und so tun, als wäre alles in Ordnung – während nicht weit entfernt Kinder bombardiert werden, hier, mitten in Europa. Und währenddessen debattieren wir darüber, ob man Langstreckenraketen liefern darf oder nicht. Die Ukraine hat jedes Recht, jede Waffe einzusetzen und Ziele in Russland zu bombardieren – denn Russland bombardiert innerhalb der Ukraine. Diese Vorstellung des Westens, dass Russland das irgendwie ›dürfe‹ und die Ukraine ›nicht dürfe‹, ist absurd. Dann kommen immer technische Argumente: Wenn eine Waffe aus den USA oder Deutschland stammt und von der Ukraine eingesetzt wird, sei Deutschland automatisch im Krieg mit Russland – völliger Unsinn. Deutschland führt keinen Krieg gegen Russland; es liefert Waffen an die Ukraine. Und die Ukraine entscheidet selbst über deren Einsatz. Das war’s. Wir sind oft so sehr darauf bedacht, juristisch korrekt zu bleiben – aber gleichzeitig sehen wir tatenlos zu, wie Kinder ermordet werden.
Welche Reaktionen bekommen Sie auf solche Instagram-Stories?
Wenn ich etwas sehe, das mich fassungslos macht – etwa einen Bombenangriff –, dann poste ich das einfach. Ich merke nämlich: Viele Menschen vergessen das inzwischen wieder. Natürlich bekomme ich Reaktionen – manche sehr wütend von Russen, andere sehr positiv von anderen Menschen – aber ehrlich gesagt: Es kümmert mich nicht. Für mich macht das keinen Unterschied. Ich arbeite für niemanden; ich werde von niemandem bezahlt; ich verdiene kein Geld mit Instagram. Es geht mir allein um gesellschaftliches Bewusstsein. Und wenn jemand das nicht mag – dann soll er einfach abschalten.
Sie haben auch über Schostakowitsch gesprochen. Auch er wird heute wieder als musikalische Waffe in Russland eingesetzt. Es gab 2022 dieses riesige Konzert mit der ›Leningrader Sinfonie‹ in Sankt Petersburg – mit Feuerwerk, und Putin erklärte aus dem Kreml heraus, Schostakowitsch sei wichtig, damit die Jugend wieder Patriotismus empfinde. Glauben Sie nicht, dass Schostakowitsch gerade jetzt ein wenig Hilfe gebrauchen könnte?
Ja, das denke ich absolut. Eines der traurigen Dinge an der heutigen politischen Situation ist, dass die meisten unserer politischen Führer kaum gebildet sind – manche etwas mehr als andere –, aber wenn man etwa auf die USA schaut: Dort kennen viele politische Führer nicht einmal den Unterschied zwischen Schostakowitsch und McDonald’s. Historisch gesehen wussten die Russen – ebenso wie die Kommunisten und übrigens auch Deutschland in seinen schlimmsten Momenten unter Hitler –, wie man Kunst nutzt, um sich selbst zu erhöhen. Wenn Putin es schafft, eine Verbindung zwischen Schostakowitsch und russischem Patriotismus herzustellen, also diesem Bild von ›Großrussland‹ mit seiner Kultur, dann ist das ein äußerst geschickter Weg, erstens Überlegenheit zu demonstrieren und zweitens die eigene Kultur aufzuwerten. Er zeigt sozusagen das Beste seines Landes – seine kulturellen Errungenschaften – und das ist schwer zu widerlegen. Das Tragische am Westen ist dagegen: Er weiß nicht, wie er seine besten kulturellen Werte einsetzen kann – als moralisches Argument für Frieden, für Aufklärung, Bildung, Wohlstand oder Zusammenarbeit. Im Westen redet man nur über Zahlen: über das Bruttoinlandsprodukt, Prozentzuwächse hier und Rückgänge dort. Putin hingegen regiert ein Land im Zerfall; große Teile Russlands leben ohne richtige sanitäre Anlagen – es ist ein rückständiges Land, mit Ausnahme einer dünnen intellektuellen Oberschicht in den Großstädten. Trotzdem spricht er über Schostakowitsch und über ›große Kultur‹. Für viele Russen wie auch für Außenstehende entsteht dadurch das Gefühl von Erhabenheit: Ja, denkt man dann, es ist doch ein großartiges Land. Er spricht natürlich nicht über Kriegsverbrechen oder darüber, dass Journalisten ermordet werden oder Geschäftspartner regelmäßig ›aus dem Fenster fallen‹. Politische Gegner werden vergiftet – aber darüber schweigt er. Stattdessen redet er über Schostakowitsch – und genau darin liegt seine Genialität: Er weiß sehr genau, was er betonen muss.
Trotz allem gibt es ja weiterhin einen musikalischen Austausch. Yuri Bashmet und Elisabeth Leonskaja spielen für russische Soldaten, Dmitri Jurowski dirigiert in St. Petersburg und Teodor Currentzis nimmt Geld von Gazprom. Verstehen Sie diese internationalen Musikerinnen und Musiker, die in Russland auftreten?
Ich glaube, jede dieser Situationen ist anders – und genau das macht es so schwierig. Man kann keine pauschalen Urteile fällen. Nehmen Sie Leonskaja: Sie spielt nicht für Soldaten. Sie hat ein Konzert in ihrer Heimat gegeben. Vielleicht wurden die Eintrittskarten weitergegeben oder Teile der Einnahmen vom Staat zu irgendeiner Art Benefizveranstaltung umgewandelt. Aber sie tritt nicht auf, um Putin oder den Kommunismus zu verherrlichen. Ich kenne sie persönlich und schätze sie wirklich sehr; sie kannte auch Schostakowitsch noch selbst. Es ist eine völlig andere Generation – für sie ist das einfach ›nach Hause kommen‹, vielleicht auch ein Moment des Nachdenkens über die eigene Vergänglichkeit.
Etwas anderes sind die Karrieren, die ins Leere gelaufen sind – Musikerinnen und Musiker, die im Westen keine Perspektive mehr haben und sich deshalb an ihren alten sowjetischen Ruhm klammern. Manche müssen sich dem Diktator anbiedern, weil sie buchstäblich nirgendwo anders hingehen können.
Currentzis dagegen ist wieder eine ganz andere Geschichte – kompliziert, ja, aber keineswegs so, wie der Westen oft denkt. Ich halte ihn mit Sicherheit nicht für einen heimlichen Botschafter Putins. Er macht seine Kunst; er nimmt Geld von dort, wo es verfügbar ist – in diesem Fall eben von Banken oder Institutionen, die in Russland existieren dürfen. So funktioniert das System dort. Und ehrlich gesagt: Auch die Berliner Philharmoniker nehmen Geld von der Deutschen Bank – einer Bank mit einer langen Geschichte von korrupten Krediten an Trump und von anderen Skandalen Weil es letztlich ums Überleben geht; ums Geld selbst.
Jede einzelne Situation muss im Kontext betrachtet werden – sehr sorgfältig und differenziert. Die Deutsche Kammerphilharmonie zum Beispiel wollte zu Beginn keine Sponsoren wie Mercedes akzeptieren, weil Mercedes während des Krieges Teile für deutsche Panzer herstellte. Heute nehmen wir Unterstützung von jedem Unternehmen an, weil wir sonst nicht überleben könnten. Unsere moralischen Maßstäbe haben sich dabei aber nicht verändert; niemand unterstützt bewusst etwas Negatives. Ich sehe diesen Unterschied klar – auch aus eigener Erfahrung: Ich beschäftige mich ständig mit Sponsorenfragen beim Estonian Festival Orchestra; wir suchen laufend nach Förderern und Unterstützung. Es ist immer ein schmaler Grat; nichts ist schwarz-weiß.
Ein Beispiel: Die Danske Bank ist eine große dänische Bank mit Filiale in Estland, durch deren Konten etwa 30 Milliarden Dollar russisches Schwarzgeld gewaschen wurden. Das wurde erst vor Kurzem entdeckt und natürlich gab es Korruption dort.
Aber wenn mir diese Bank heute zehn Millionen Euro Kredit für mein Orchester geben würde? Ich würde ihn nehmen! Denn es geht nicht um die Bank als Ganzes; es geht um einzelne korrupte Vorgänge innerhalb eines Systems. Es gibt also immer Grauzonen; nichts ist eindeutig richtig oder falsch.
Auf der anderen Seite, wenn jemand öffentlich auftritt und im Fernsehen sagt: ›Ich unterstütze Putin‹ oder ›Er ist ein großartiger Präsident‹ – dann ist alles klar. Da gibt es nichts mehr zu diskutieren. Aber keiner der Leute, die Sie gerade erwähnt haben, hat das getan. Ganz sicher nicht Leonskaja. Und ganz sicher auch nicht Currentzis.
Was würden Sie sagen, wenn St. Petersburg Sie anrufen und fragen würde, ob Sie nicht die Petersburger Philharmoniker dirigieren wollen?
Nein, niemals. Nein. Ich liebe dieses Orchester sehr. Aber bis Putin tot ist, gehe ich nicht wieder nach Russland.
Und wie steht es um die ukrainische Kultur?
Ich bin derzeit in Verhandlungen und Gesprächen mit einem Orchester in Kyjiw, in der Ukraine. Ich werde dorthin gehen. Wir wissen noch nicht genau, wann und mit welchem Programm, aber ich möchte das symbolisch unterstützen. Tatsächlich denke ich sogar darüber nach – mal sehen, wie wir das organisieren können –, mit meinem Estonian Festival Orchestra dorthin zu reisen. Dort gibt es keine Probleme für mich. Nach Russland würde ich natürlich nicht fahren. Ich will vor allem nicht zu nah am Fenster sitzen oder vergifteten Tee trinken – schließlich kennen sie dort auch alle meinen Instagram-Account. ¶
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