Paavo Järvis Annäherung an Bartók und Schubert
Heilignüchtern
Von Michael Pitz-Grewenig, 09.12.2025
Orchesterfoto Deutsche Kammerphilharmonie und Paavo Järvi, © Julia Baier
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„Musik, die ausschließlich aus dem Herz herausgeschrieben wurde”, so Belá Bartók zu seinem ersten Violinkonzert, das erst dreizehn Jahre nach seinem Tod uraufgeführt wurde. Das Konzert ist ein persönliches Werk: „Ich falle von einem Extrem ins andere. Ein Brief von Ihnen, sogar eine Zeile, ein Wort von Ihnen macht mich jubeln, ein anderes bringt mich fast zum Weinen, so weh tut es mir. Was wird am Ende davon sein, und wann. Es ist ein ständiger seelischer Rausch." Béla Bartók war verliebt in die 19-jährige Geigerin Stefi Geyer. Zu Beginn des Konzertes erklingt ein Leitmotiv, das die musikalische Personifizierung der Geliebten darstellt. Leider hat Stefi Geyer die Beziehung abgebrochen, gleichwohl übersandte Bartók ihr die Komposition mit einer Widmung. Stefi Geyer hat das Konzert jedoch weder öffentlich gespielt, noch publiziert. Die Uraufführung fand erst 1958 zwei Jahre nach ihrem Tode statt.
Die Solistin Alena Baeva verstand sich mit Paavo Järvi und der Deutschen Kammerphilharmonie aufs Beste. Bereits die eröffnenden zarten Phrasen auf der Violine lassen spüren, dass hier etwas Außergewöhnliches geschieht: Alena Baeva gelang, durch ihre bemerkenswerte Intensität der musikalischen Gestaltung, ihre schlicht überzeugende Rhetorik und die ausgesprochen sprachnahe Kontrolle ihres Ausdrucks – oder, anders gesagt, durch ihr spürbares Verantwortungsbewusstsein der Musik gegenüber – die Zuhörer aus ihrer gewohnten Zurückhaltung herauszureißen. Paavo Järvi verwebte das Orchester sensibel mit dem Solopart und erreichte eine subtile musikalische Einheit, die sich durch hohe Komplexität und Homogenität auszeichnete. Die einzelnen Stimmen verbanden sich zu einem vielschichtigen Klanggeflecht, das Raum für solistische Entfaltung ebenso ließ wie für orchestrale Tiefe. Im Ergebnis eine Interpretation, die vorbehaltlos überzeugte und diesem Konzert neue, frische Facetten abgewann. Gleiches galt auch für Bartóks 1. Rhapsody.
Das Bemerkenswerte an Paavo Järvis Herangehensweise bei Franz Schuberts 5. und 6. Sinfonie ist, dass die Sinfonik des jungen Schuberts als eigenständige Station zwischen Klassik und Romantik ernst genommen wird und nicht als Vorstufe. Paavo Järvi strukturiert die Musik im intensiven Zusammenwirken mit seinem Orchester gleichsam rhetorisch und trifft genau den Ton dieser sinfonischen Geniestreiche des jungen Schuberts. Dabei wurde nichts glattgeschliffen, aber auch nichts künstlich aufgerauht und „interessant" gemacht. Eine Interpretation ohne Pathos, aber dafür federnd und sowohl in Tempo wie in Dynamik abwechslungsreich. Viele kleine Details machen Freude, eine Bläserstimme bildet hier einen reizvollen Kontrast, da ein rhythmischer Akzent, dort ein Wechselspiel mit den Streichern, einfach herrlich.
Järvi versteht Schuberts frühe Sinfonik als eigenständige Etappe in einer romantischen Tradition, die auch zu Hector Berlioz führt. Er gibt dieser Musik ihre Jugendlichkeit zurück und ihre Lust am Experiment. Passend zum Konzert erschien die erste CD des Schubert-Projektes der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen mit der 4. und 7. Sinfonie („Unvollendete“). Obwohl bereits unzählige Einspielungen dieser Werke existieren, darf dieser Tonträger, wie auch das Konzert als Glücksfall unter den modernen Schubert-Interpretationen gelten. Paavo Järvi gelingt es - wie so oft - das seltene Kunststück, durch präzise Partiturverfolgung zu überzeugenden Interpretationen zu kommen. Der Kabarettist, Autor und Schauspieler Josef Hader, der ja auch respektabel Klavier spielen kann, hat es wie im Booklet zu lesen ist, auf den Punkt gebracht: „Ich vermute, Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen und ihr Künstlerischer Leiter Paavo Järvi hören sich mehr zu als andere große Orchester und Dirigenten. Und ich glaube zu spüren, dass aus diesem gegenseitigen Zuhören eine gemeinsame Gewissheit entsteht, die höchstes Risiko erlaubt. Das Ergebnis ist selbstverständliche, lebendige, atmende Musik. Nichts dient einem Effekt, nichts ist parfümiert. Alles ist durchlässig. Ich glaube, eine Einfachheit zu hören, die nur dadurch möglich wird, dass über 40 schlaue Menschen sich gemeinsam etwas überlegt haben und den Mut besitzen, das auch ohne Rückversicherung, ja geradezu rücksichtslos zu musizieren. Und ein sehr schlichter Zuhörer wie ich begreift auf einmal, wie ein großes Genie etwas gemeint hat. Gemeint haben könnte. Wurscht.“
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen!
Kritik von Michael Pitz-Grewenig
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