"Ich bin immer entspannt"
From today's Wiesbadener Kurier:
Paavo Järvi, designierter Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters
Vom 09.12.2005
Der in Tallinn (Estland) geborene Dirigent Paavo Järvi (42) wird im Sommer 2006 Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters in Frankfurt. Heute dirigiert der Sohn des Dirigenten Neeme Järvi in der Alten Oper.
Herr Järvi, Sie machen nach der langen Probe einen genauso entspannten Eindruck wie vorher.
Järvi: Ich bin immer entspannt. Ich glaube, dass man sehr intensiv proben muss. Aber es macht keinen Sinn, unter negativem Stress zu stehen. Musiker müssen inspiriert, nicht militärisch diszipliniert werden. Das sind kreative Menschen. Ich glaube, dass die Musiker jetzt vielleicht müde, aber nicht gestresst sind. Denn unsere Arbeit ist logisch. Da gibt es eine klare Richtung, in die wir gehen möchten. Unnötige Spannung lässt die Musiker nur schlechter spielen.
Habe ich das vorhin während der Probe richtig verstanden, dass Sie für den ersten Satz des dritten Klavierkonzerts von Beethoven weniger dramatische Intensität im Orchester wünschten?
Järvi: Das ist nicht eine Frage von dramatischer Intensität. Die Beethoven-Interpretation hat eine große Tradition, und Tradition ist etwas, das gelegentlich überdacht werden muss. Wir sind in unserer Zeit besser informiert über die Aufführungspraxis.
Der Solist Olli Mustonen hat einen sehr ausgeprägten Personalstil.
Järvi: Das ist genau das, was ich an ihm liebe. Ich hasse neutrale Interpretationen. Persönlichkeit ist alles, aber natürlich muss man informiert sein. Olli weiß genau, was er spielt (Järvi singt einen Lauf aus der Klavierstimme mit einer Betonung am Schluss). Wenn man in die Partitur schaut, dann sieht man: Beethoven hat das Sforzato auf den letzten Ton geschrieben.
Aber stehen über dem ersten Einsatz nicht Legato-Bögen?
Järvi: Auf dem Hammerklavier ließ sich das so nicht spielen. Aber schauen Sie: Das sind alles Fragen, über die man diskutieren kann. Der Punkt ist, dass Olli genau weiß, was er will. Ich habe das Konzert oft mit ihm gespielt, auf Tournee mit der Deutschen Kammerphilharmonie, auch bei den Salzburger Festspielen. Die hassten das. Aber das macht nichts.
In diesem Konzert kombinieren Sie Carl Nielsen mit Beethoven und Bach, im nächsten Frankfurter Konzert die dritten Sinfonien von Pärt und Bruckner. Darf man das als programmatische Konstellationen für Ihre künftige Frankfurter Arbeit verstehen?
Järvi: Wenn man ein Mozart-Klavierkonzert und eine Bruckner-Sinfonie macht, dann ist das sehr nett und allgemein üblich. Aber wenn man die Dritte von Bruckner und die Dritte von Pärt spielt, dann wird das Pärt und Bruckner anders klingen lassen. Und manche Leute werden darüber nachdenken. Ich denke nicht, dass Musik immer eine ausschließlich intellektuelle Angelegenheit sein muss, aber ich selbst bevorzuge den intellektuellen Aspekt. Das vermittelt eine andere geistige Dimension.
Sie dirigieren in Ihren Programmen viele Werke nordischer Komponisten, gerade auch aus dem Baltikum.
Järvi: Ja, ich glaube, dass das unter musikalischen Gesichtspunkten eine großartige Region ist. Vielleicht mache ich mehr Mahler und Bruckner als Nielsen, aber ich mache viel Nielsen, Sibelius, Stenhammar, Erkki-Sven Tüür, Lepo Sumera and Pärt. Es ist eine Gegend mit viel guter Musik.
Spüren Sie in dieser Musik eine psychische Affinität, eine seelische Gemeinsamkeit?
Järvi: Mit Musik, mit der ich nicht verbunden bin, fühle ich mich auf dem Podium unwohl. Ich muss nicht immer intellektuell mit einem Stück verbunden sein, aber unbedingt emotional. Es ist wie im Umgang mit Menschen. Die persönliche Anziehung ist wichtig.
Und die nordische Musik-Tradition liegt Ihnen besonders am Herzen.
Järvi: Ja, absolut. Carl Nielsen zum Beispiel ist einer der größten Sinfoniker des 20. Jahrhunderts, ohne Frage. Die sechste Sinfonie ist 1925 geschrieben. Diese musikalische Sprache wurde als schizophren angesehen. Heute denkt man immer noch, dass es sehr merkwürdig ist. Es ist eine Art postmodernes Stück vor der Moderne.
Wie lässt sich die Arbeit als Chef des Cincinnati Symphony Orchestra, der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und ab 2006 des hr-Sinfonieorchesters Frankfurt miteinander vereinbaren?
Järvi: Ich habe gute Gründe, drei Orchester zu haben: Weil sie vollkommen unterschiedliche, sich ergänzende Charaktere haben. Für ein amerikanisches Orchester ist es sehr schwierig, etwas anderes als Standard-Repertoire zu spielen. Natürlich versuchen wir das immer. Wegen des Musikmarkts, wegen des Publikums und der Finanzierung ist das nicht leicht. Aber ich muss in meinem Leben auch neue Musik dirigieren, ich möchte Kammermusik machen, ich brauche Haydn, Mozart, Schubert, sogar Bach. Ich kann das nicht mit einem so großen Orchester machen. Der Hessische Rundfunk hat den Auftrag, mehr ungewöhnliches Repertoire zu spielen. Und die Kammerphilharmonie atmet die klassische Tradition. Das öffnet meine Augen ein wenig für eine andere Art des Orchesterklangs. Die drei Orchester sind sehr unterschiedlich.
Sie sind in eine Musiker-Familie hineingeboren worden. Ist es nicht schwer für einen Heranwachsenden, mit einem so berühmten Vater eine eigene musikalische Persönlichkeit zu entwickeln?
Järvi: Das hängt von der Art der Familie und der Beziehungen ab. In meinem Fall war es nur von Vorteil. Wir sind unserem Vater sehr nahe. Er hat uns immer sehr ermutigt, und ich habe nie eine Art von Wettbewerb oder eine starre Richtung gespürt. Im Gegenteil. Er war immer sehr offen. Und Dirigieren ist vor allem Handwerk. Man braucht eine grundlegende Ausbildung. Wenn man einen Vater hat, der fähig ist, das zu teilen, lernt man so viel!
Sie haben auch Rockmusik gemacht.
Järvi: Oh ja. Rockmusik hat etwas sehr Befreiendes, weil man sich auf eine Weise ausdrücken kann, die einem Anfänger der klassischen Musik nicht erlaubt ist. Von der Rockmusik bin ich zum Jazz gekommen, den ich nach wie vor sehr liebe. Das macht den Kopf frei.
Würden Sie sagen, dass stilistische Offenheit, die sich in gewissem Sinn ja auch in der neuen Musik der baltischen Länder oder auch aus der ehemaligen Sowjetunion findet, typisch für die Region Ihrer Herkunft ist?
Järvi: Wir in Estland waren ungefähr 60 Jahre von den Russen besetzt. Da sollte es keine Illusionen geben: Das Sowjet-System war genau wie Nazideutschland. Die Musik war eine Möglichkeit, die eigene, nationale Stimme auszudrücken. Musik wurde die wichtigste politische Stellungnahme und ist bis heute verbunden mit dem Selbstbewusstsein der kleinen Kulturen.
Und die Komponisten haben nicht die Verbindung zum Publikum verloren.
Järvi: Genau. Musik war immer verständlich genug. Wir waren nicht sehr beeinflusst von der superintellektuellen Darmstädter Schule.
Was denken Sie über die Zukunft der neuen Musik?
Järvi: Ich glaube, dass wir das Schlimmste hinter uns haben. Vielleicht ist die beste Zeit für neue Musik angebrochen. Man kann heute machen, was man will. Wir sind frei von den großen Diktatoren der neuen Musik. Es ist eine sehr gute Zeit für junge Komponisten.
Wir werden in Frankfurt viele neue Werke hören?
Järvi: Ja. Aber was ich nicht mag, sind reine Neue-Musik-Konzerte. Unsere neue Musik wird neben Beethoven und Brahms stehen, nicht im eigenen Ghetto. Wir werden auch viel Musik hören, die nicht neu, aber unbekannt ist. Es gibt so viel phantastische Musik, die nicht genug gespielt wird!
Mit dem Dirigenten Paavo Järvi sprach Volker Milch.
Paavo Järvi, designierter Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters
Vom 09.12.2005
Der in Tallinn (Estland) geborene Dirigent Paavo Järvi (42) wird im Sommer 2006 Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters in Frankfurt. Heute dirigiert der Sohn des Dirigenten Neeme Järvi in der Alten Oper.
Herr Järvi, Sie machen nach der langen Probe einen genauso entspannten Eindruck wie vorher.
Järvi: Ich bin immer entspannt. Ich glaube, dass man sehr intensiv proben muss. Aber es macht keinen Sinn, unter negativem Stress zu stehen. Musiker müssen inspiriert, nicht militärisch diszipliniert werden. Das sind kreative Menschen. Ich glaube, dass die Musiker jetzt vielleicht müde, aber nicht gestresst sind. Denn unsere Arbeit ist logisch. Da gibt es eine klare Richtung, in die wir gehen möchten. Unnötige Spannung lässt die Musiker nur schlechter spielen.
Habe ich das vorhin während der Probe richtig verstanden, dass Sie für den ersten Satz des dritten Klavierkonzerts von Beethoven weniger dramatische Intensität im Orchester wünschten?
Järvi: Das ist nicht eine Frage von dramatischer Intensität. Die Beethoven-Interpretation hat eine große Tradition, und Tradition ist etwas, das gelegentlich überdacht werden muss. Wir sind in unserer Zeit besser informiert über die Aufführungspraxis.
Der Solist Olli Mustonen hat einen sehr ausgeprägten Personalstil.
Järvi: Das ist genau das, was ich an ihm liebe. Ich hasse neutrale Interpretationen. Persönlichkeit ist alles, aber natürlich muss man informiert sein. Olli weiß genau, was er spielt (Järvi singt einen Lauf aus der Klavierstimme mit einer Betonung am Schluss). Wenn man in die Partitur schaut, dann sieht man: Beethoven hat das Sforzato auf den letzten Ton geschrieben.
Aber stehen über dem ersten Einsatz nicht Legato-Bögen?
Järvi: Auf dem Hammerklavier ließ sich das so nicht spielen. Aber schauen Sie: Das sind alles Fragen, über die man diskutieren kann. Der Punkt ist, dass Olli genau weiß, was er will. Ich habe das Konzert oft mit ihm gespielt, auf Tournee mit der Deutschen Kammerphilharmonie, auch bei den Salzburger Festspielen. Die hassten das. Aber das macht nichts.
In diesem Konzert kombinieren Sie Carl Nielsen mit Beethoven und Bach, im nächsten Frankfurter Konzert die dritten Sinfonien von Pärt und Bruckner. Darf man das als programmatische Konstellationen für Ihre künftige Frankfurter Arbeit verstehen?
Järvi: Wenn man ein Mozart-Klavierkonzert und eine Bruckner-Sinfonie macht, dann ist das sehr nett und allgemein üblich. Aber wenn man die Dritte von Bruckner und die Dritte von Pärt spielt, dann wird das Pärt und Bruckner anders klingen lassen. Und manche Leute werden darüber nachdenken. Ich denke nicht, dass Musik immer eine ausschließlich intellektuelle Angelegenheit sein muss, aber ich selbst bevorzuge den intellektuellen Aspekt. Das vermittelt eine andere geistige Dimension.
Sie dirigieren in Ihren Programmen viele Werke nordischer Komponisten, gerade auch aus dem Baltikum.
Järvi: Ja, ich glaube, dass das unter musikalischen Gesichtspunkten eine großartige Region ist. Vielleicht mache ich mehr Mahler und Bruckner als Nielsen, aber ich mache viel Nielsen, Sibelius, Stenhammar, Erkki-Sven Tüür, Lepo Sumera and Pärt. Es ist eine Gegend mit viel guter Musik.
Spüren Sie in dieser Musik eine psychische Affinität, eine seelische Gemeinsamkeit?
Järvi: Mit Musik, mit der ich nicht verbunden bin, fühle ich mich auf dem Podium unwohl. Ich muss nicht immer intellektuell mit einem Stück verbunden sein, aber unbedingt emotional. Es ist wie im Umgang mit Menschen. Die persönliche Anziehung ist wichtig.
Und die nordische Musik-Tradition liegt Ihnen besonders am Herzen.
Järvi: Ja, absolut. Carl Nielsen zum Beispiel ist einer der größten Sinfoniker des 20. Jahrhunderts, ohne Frage. Die sechste Sinfonie ist 1925 geschrieben. Diese musikalische Sprache wurde als schizophren angesehen. Heute denkt man immer noch, dass es sehr merkwürdig ist. Es ist eine Art postmodernes Stück vor der Moderne.
Wie lässt sich die Arbeit als Chef des Cincinnati Symphony Orchestra, der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und ab 2006 des hr-Sinfonieorchesters Frankfurt miteinander vereinbaren?
Järvi: Ich habe gute Gründe, drei Orchester zu haben: Weil sie vollkommen unterschiedliche, sich ergänzende Charaktere haben. Für ein amerikanisches Orchester ist es sehr schwierig, etwas anderes als Standard-Repertoire zu spielen. Natürlich versuchen wir das immer. Wegen des Musikmarkts, wegen des Publikums und der Finanzierung ist das nicht leicht. Aber ich muss in meinem Leben auch neue Musik dirigieren, ich möchte Kammermusik machen, ich brauche Haydn, Mozart, Schubert, sogar Bach. Ich kann das nicht mit einem so großen Orchester machen. Der Hessische Rundfunk hat den Auftrag, mehr ungewöhnliches Repertoire zu spielen. Und die Kammerphilharmonie atmet die klassische Tradition. Das öffnet meine Augen ein wenig für eine andere Art des Orchesterklangs. Die drei Orchester sind sehr unterschiedlich.
Sie sind in eine Musiker-Familie hineingeboren worden. Ist es nicht schwer für einen Heranwachsenden, mit einem so berühmten Vater eine eigene musikalische Persönlichkeit zu entwickeln?
Järvi: Das hängt von der Art der Familie und der Beziehungen ab. In meinem Fall war es nur von Vorteil. Wir sind unserem Vater sehr nahe. Er hat uns immer sehr ermutigt, und ich habe nie eine Art von Wettbewerb oder eine starre Richtung gespürt. Im Gegenteil. Er war immer sehr offen. Und Dirigieren ist vor allem Handwerk. Man braucht eine grundlegende Ausbildung. Wenn man einen Vater hat, der fähig ist, das zu teilen, lernt man so viel!
Sie haben auch Rockmusik gemacht.
Järvi: Oh ja. Rockmusik hat etwas sehr Befreiendes, weil man sich auf eine Weise ausdrücken kann, die einem Anfänger der klassischen Musik nicht erlaubt ist. Von der Rockmusik bin ich zum Jazz gekommen, den ich nach wie vor sehr liebe. Das macht den Kopf frei.
Würden Sie sagen, dass stilistische Offenheit, die sich in gewissem Sinn ja auch in der neuen Musik der baltischen Länder oder auch aus der ehemaligen Sowjetunion findet, typisch für die Region Ihrer Herkunft ist?
Järvi: Wir in Estland waren ungefähr 60 Jahre von den Russen besetzt. Da sollte es keine Illusionen geben: Das Sowjet-System war genau wie Nazideutschland. Die Musik war eine Möglichkeit, die eigene, nationale Stimme auszudrücken. Musik wurde die wichtigste politische Stellungnahme und ist bis heute verbunden mit dem Selbstbewusstsein der kleinen Kulturen.
Und die Komponisten haben nicht die Verbindung zum Publikum verloren.
Järvi: Genau. Musik war immer verständlich genug. Wir waren nicht sehr beeinflusst von der superintellektuellen Darmstädter Schule.
Was denken Sie über die Zukunft der neuen Musik?
Järvi: Ich glaube, dass wir das Schlimmste hinter uns haben. Vielleicht ist die beste Zeit für neue Musik angebrochen. Man kann heute machen, was man will. Wir sind frei von den großen Diktatoren der neuen Musik. Es ist eine sehr gute Zeit für junge Komponisten.
Wir werden in Frankfurt viele neue Werke hören?
Järvi: Ja. Aber was ich nicht mag, sind reine Neue-Musik-Konzerte. Unsere neue Musik wird neben Beethoven und Brahms stehen, nicht im eigenen Ghetto. Wir werden auch viel Musik hören, die nicht neu, aber unbekannt ist. Es gibt so viel phantastische Musik, die nicht genug gespielt wird!
Mit dem Dirigenten Paavo Järvi sprach Volker Milch.
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