CONCERT REVIEW: DKAM in Frankfurt (2)

Frankfurt Review #2, thanks to Lukas!
Auf der Suche nach Extremen: Debüt der Geigerin Patricia Kopatchinskaja in der Alten Oper
Von Harald Budweg
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.05.2006

Ein Beethoven-Abend, bestehend aus einer Ouvertüre, einem Solokonzert und einer Sinfonie: Eine konventionellere Programmgestaltung, so scheint es, kann es im Musikleben einer Stadt gar nicht geben. Wie sehr aber auch in diesem Fall Erwartungen getäuscht werden können, wie sehr scheinbar wohlvertraute Konzertsaalrituale zu einer musikalischen Abenteuerfahrt in unbekannte Gefilde einladen können, das bewies jetzt ein Gastspiel der Deutschen Kammerphilharmonie bei "Pro Arte" in der Alten Oper.

Das kleine Eliteorchester, früher einmal zum Frankfurter Kulturleben gehörend, seit 1992 aber in Bremen ansässig, wird seit zwei Jahren von dem estnischen Dirigenten Paavo Järvi geleitet, der im kommenden Herbst als Nachfolger Hugh Wolffs auch die Leitung des hr-Sinfonieorchesters übernehmen wird. Die Qualität der ohnehin längst zur Spitze zählenden Deutschen Kammerphilharmonie hat er offenbar noch steigern können. Reaktionsschnell, flexibel und klangschön spielten die Musiker einen ganzen Abend lang, schlank im Ton, aber straff im Ausdruck. Schon Beethovens Ouvertüre zu Collins Drama "Coriolan" c-Moll op. 62 war für Järvi alles andere als ein Warmspielstück - ungewöhnlich heftig prallten die musikalischen Gegensätze aufeinander. Erst recht war Beethovens Sinfonie Nr. 8 F-Dur op. 93 von einer unterschwelligen Unruhe und heftigen, emotionsgeladenen Impulsen geprägt, ausgelöst durch die äußerst dichte musikalische Struktur der Kopfsatz-Durchführung und der jähen Kontrastdramaturgie des Finales. Obwohl Järvi stets ein vehementes Tempo vorlegte, geriet die Musik dank vorbildlicher Aufmerksamkeit der Bremer Musiker nie kurzatmig. Allerdings setzte der Dirigent auch nicht auf wohlfeile Effekte, sondern lotete die Musik in ihrem doppelbödigen Sinngehalt optimal aus und blieb dabei als
Gestalter doch auch ganz Musiker, ließ den Ausführenden Raum zum "atmen", zu sauberer, einheitlicher Phrasierung bei genauer Beachtung der instrumentalen Charakteristika. Eine sehr feinsinnig differenzierte Interpretation der Komposition "Valse triste" op. 44 von Jean Sibelius war die Zugabendelikatesse dieses Abends.

Anstelle der ursprünglich angekündigten Solistin Akiko Suwanai gab Patricia Kopatchinskaja ihr Debüt in Beethovens Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 61. Die junge Frau aus Moldau wird in Veranstalterkreisen hoch gehandelt, ihr Name taucht plötzlich wie aus dem Nichts auf den Konzertplakaten der Welt auf. Das macht neugierig. Steht die Geigerin dann auf der Bühne, glaubt man seinen Augen kaum zu trauen: Beethovens Konzert beginnt mit einer sehr langen Orchestereinleitung, doch bevor Patricia Kopatchinskaja ihren ersten Einsatz absolviert, hat sie schon ein erhebliches Pensum hinter sich: Während Järvi und die Musiker die Themen und ihre Verzweigungen vorstellen, vollführt die Solistin heftige, fast tänzerische Bewegungen, richtet, weil nicht auswendig spielend, ihren Notenständer, nestelt an ihrer Kleidung, grimassiert den musikalischen Verlauf.

Wer nun glaubt, dies alles seien nebensächliche Äußerlichkeiten eines Auftritts, irrt gewaltig: Patricia Kopatchinskajas ungewöhnliches Verhalten führt direkt ins Zentrum ihrer Musikauffassung. Als Interpretin nämlich scheint die hochbegabte Nachwuchsgeigerin ausschließlich in solchen Extremen zu denken: Mal spielt sie über Gebühr leise und tonlos, mal wird jeder kleine Akzent zu massiv und ruppig gesetzten Sforzati. Es gibt kaum eine musikalische Phrase, deren Gestaltung nicht maßlos übertrieben wirkte.

Dies alles wäre nicht der Rede wert, stünden der Solistin technisch-musikalisch nur begrenzte Ausdrucksmittel zur Verfügung. Doch das Gegenteil scheint der Fall: Patricia Kopatchinskaja ist eine begnadete Ausnahmegeigerin, die - so absurd das klingen mag - über zu viele Ausdrucksmittel verfügt, die sie am liebsten alle gleichzeitig einsetzen möchte. Viele Passagen klingen, als wollte die Künstlerin Hanslicks berühmtes Fehlurteil des 19. Jahrhunderts über Tschaikowskys Violinkonzert, in dem die Geige nicht gespielt, sondern gerupft und gezaust werde, nachträglich beglaubigen. Haben ihre Lehrer in Übungsstunden nie von der Ökonomie der Mittel und einer dem Werk dienenden Interpretation gesprochen? Man mag angesichts des enormen geigerischen Potentials auch deswegen so fragen, weil sich da noch manches korrigieren ließe.

Paavo Järvi hat wahrscheinlich nichts gesagt, er hat sich vielmehr den Intentionen der Solistin spürbar angepaßt - zumindest in den Rahmensätzen. Im Larghetto aber ist er eigene Wege gegangen. Nun mußte Patricia Kopatchinskaja sich auf ihn einstellen. Flugs entstand ein Klangbild, in dem eines aus dem anderen logisch hervorging. Das soll allerdings nicht bedeuten, Patricia Kopatchinskaja suche aus Kalkül und Provokationslust den grellen Effekt. Einige ihrer Kollegen tun dies ja, doch mit denen möchte man die Künstlerin nicht vergleichen. Dennoch hat ihre seltsame Interpretation wenig mit Beethoven, um so mehr jedoch mit ihr selbst zu tun: In ihrer Biographie heißt es ausdrücklich, die Violinistin komponiere gelegentlich und improvisiere gern. Genau das war es auch: eine Art Improvisation über Beethovens Violinkonzert, zumal sie es mit dem Notentext nicht immer ganz genau nahm.

Ob Patricia Kopatchinskaja musikalische Vorbilder hat, ist nicht bekannt. Wäre der Pianist Olli Mustonen ein Geiger, wäre er vielleicht ein solches. Im Vergleich zu Patricia Kopatchinskaja ist Julia Fischer eine kreuzbrave Interpretin. Nach dem Genuß ihrer Beethoven-Interpretation allerdings geht man beseelt nach Hause. Über Kopatchinskajas Darbietung ist man lediglich verwundert. Doch sei's drum: Dem Pro-arte-Publikum hat es gefallen. So sehr, daß schon nach dem ersten Satz der Beifall derjenigen, die das Stück für beendet hielten, kaum aufhören wollte. Ob die Dame, deren Handy während der Musikdarbietung so unverkennbar klingelte, von dem gerade stattfindenden Erlebnis begeistert erzählt hat?

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