CONCERT REVIEW: Frankfurt Radio




September 6, 2008

http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/1589917_Eine-Fuelle-von-Fragen.html?sid=33d56961da5836333fad84b8cbfba578

Alte Oper
Eine Fülle von Fragen
VON HANS-JÜRGEN LINKE


Das Stimmen und Einspielen der Instrumente, unvermeidliches Orchester-Ritual vor dem Konzert, bekommt einen anderen Charakter, wenn es vor einem Konzert mit Musik von Mauricio Kagel geschieht, weil es Fragen aufwirft, auf die man sonst nicht ohne weiteres käme: Gehört das schon zum Konzert? Steht in der Partitur vielleicht etwas wie "Einspielen, Instrumente stimmen, sich dabei möglichst natürlich verhalten" oder eine andere theatrale Anweisung für die Musiker? Gibt es irgendwo eine nicht gleich erkennbare rhythmische Figur?
Der Verdacht ist naheliegend, aber unbegründet. Kagels Étude Nr. 3 für großes Orchester beginnt erst, nachdem Dirigent Paavo Järvi das Pult vorm HR-Sinfonieorchester betreten hat. Die Étude selbst erweist sich allerdings als ein Stück, das jeden Verdacht belegen kann: Klangkonstellationen entstehen burschikos und übergangslos als geplante Ergebnisse verwirrender rhythmischer Operationen,und der Dirigent hat allein mit dem Taktschlagen eine reichlich anspruchsvolle Aufgabe zu erledigen. Järvi allerdings tut das souverän und federnd leichtgängig und hat dabei in sich immer noch genügend Aufmersamkeit für das Stück übrig, so dass in seiner klingenden Wechselbalg-Gestalt ein herausfordernd mit dem Material spielender Kagel erscheint, dem dieses Konzert zur Eröffnung des Komponisten-Porträts im Rahmen des "Auftakt"-Festes der Alten Oper große Freude bereitet haben dürfte.


Was im Detail steckt
Auch das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks hat einen Artist in Residence vorzustellen, den Geiger Christian Tetzlaff, und als Eröffnungsstück dafür eines der großen romantischen Violinkonzerte, das e-Moll-Konzert op. 64 von Mendelssohn-Bartholdy gewählt.
Eine von Tetzlaffs Eigenarten scheint zu sein, das Neue seines persönlichen Zugriffs auf die Musik aus gründlichem Erforschen zahlloser Details zu gewinnen und aus der Fähigkeit, aus einer ungemein differenzierungsfähigen Detail-Gestaltung etwas Komplettes entstehen zu lassen. Seine Spielhaltung kommt ohne jedes Auftrumpfen daher, ohne selbstzufriedenes Virtuosengehabe, sein Ton ohne Breite, Fülle und Sämigkeit und seine Haltung zur Romantik ohne zurückblickende Gefühligkeit, aber er ist kein kalter Analytiker. Seine Stärke ist seine Angespanntheit, die ihm zu jeder Phrase eigene Gedanken abfordert, die mit einem Grundgedanken über das Ganze in engem Zusammenhang stehen.
Und genau da trifft er sich offenbar mit Paavo Järvi, der in (oder vor) den Proben das Violinkonzert offenbar auseinandergenommen und beim Wieder-Zusammensetzen und mit einer Fülle von Fragen angereichert hatte. Das HR-SinfonieOrchester entwickelte seine hellwache Spielkultur wie ein Kammerorchester aus interner Aufmerksamkeit und brauchte kaum. Wenn diese Qualität die Maßstäbe für die Zusammenarbeit zwischen dem Orchester und seinem Gastsolisten über die Spielzeit hinweg gezeigt hat, dann stehen dem Publikum eine Reihe bemerkenswerter Konzerte bevor. Tetzlaff gab in der Zugabe (Gavotte aus der Partita E-Dur für Violine solo von Johann Sebastian Bach) einen Vorgeschmack auf seinen nächsten Frankfurter Auftritt.
Im dritten Stück des Abends, Béla Bartóks zerklüftetem Konzert für Orchester aus dem Jahre 1943, war das Orchester selbst der Solist, und wieder zeigte es sich als fast perfektes Instrument für Järvis Detail-Sinn. Bartok führt auf vergleichsweise engem Raum eine Fülle von Spielweisen, rhythmischen Situationen, Klangkonstellationen und Veränderungen vor, so dass es einer erheblichen Interpretations-Anstrengung bedarf, wenn man hier noch vor lauter Bäumen den Wald im Blick behalten will. Was in diesem Fall vorzüglich gelang.

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