Die Berliner Philharmoniker suchen ihren Chef
RP-online.de
Wolfram Goertz
2018 wird Simon Rattle das großartige Orchester verlassen. Einige aussichtsreiche Kandidaten haben das Zeug, ihn zu beerben.
Im Jahr 2018 gibt der König die Krone im fremden Land zurück und begnügt sich mit einem Krönchen in der Heimat. Wenn es stimmt, dass der Brite Simon Rattle die Berliner Philharmoniker verlässt, um daheim das London Symphony Orchestra zu übernehmen, dann wäre das künstlerisch ein Abstieg, aber gewiss ein Signal aus patriotischem Herzen und gesundheitlicher Klugheit. Rattle wird dann 63 Jahre alt sein und sich im Gefühl sonnen können, in Berlin viel bewegt zu haben.
Er hat nach seinem eher introvertierten Vorgänger Claudio Abbado das Konzerterlebnis als solches in offensive Richtungen gelenkt. Vor allem hat er die Philharmoniker auf ihrem Weg in einen neuen medialen Aggregatzustand begleitet: Es ist jetzt ein Orchester im wärmenden Bett einer Stiftung, die von der Deutschen Bank getragen wird; mit einem eigenen Schallplattenlabel; mit globaler Präsenz durch Live-Streaming der Konzerte. Rattle passt perfekt in diese Ära, weil er unautoritär wirkt und tatsächlich ein Anti-Maestro ist.
Das geht bisweilen zu Lasten der musikalischen Qualität. Das merkt man bei der neuen Platte des Renommier-Orchesters: Die vier Symphonien von Robert Schumann hat Rattle soeben derart empfindungsfrei und aalglatt runtergehobelt, dass man sagen muss: Die Premiere versank fast im Bett des Rheins. Die "Rheinische" hat man lange nicht so bedeutungslos erlebt.
Tatsächlich gibt es auch in Berlin Stimmen, die an Ort und Stelle den Mangel an dirigentischer Erstklassigkeit beklagen. Simon Rattles Zeit war weitgehend frei von überdimensionalen Interpretationen, selbst wenn er in alle Richtungen viel riskierte. Rattle hat das Repertoire der Philharmoniker gespreizt, aber in diesem weiten Raum selbst keine wegweisenden Marken setzen können. Schon Sir Simons Berliner Beginn mit Gustav Mahlers Fünfter Symphonie cis-Moll war beinahe zwanghaft geraten: Da wollte einer alles in der Partitur zum Hören bringen. Das Ergebnis: Man hörte nichts mehr.
Natürlich sind die Berliner Philharmoniker schon längst auf der Suche nach einem Nachfolger. In der modernen Zeitrechnung ist 2018 beinahe übermorgen. Wer käme denn in Frage für dieses hehre Amt? Hier eine Übersicht über die derzeit immer wieder gehandelten Namen. Christian Thielemann (geboren 1959) wäre in der deutschen Hauptstadt sozusagen der deutsche Nationalkapellmeister. Käme er tatsächlich aus Dresden nach Berlin, wäre damit eine Furtwänglerisierung der Philharmoniker verbunden, eine gewiss auch programmatisch deutliche Preußenlastigkeit, die manche ersehnen, die manchen aber schon vorab suspekt ist. Derzeit leitet er die Staatskapelle Dresden. Gustavo Dudamel (1981) ist einer der Feuerköpfe aus Lateinamerika. Er hat sich aus dem venezolanischen "Sistema" hochgearbeitet zu einem seriösen Superstar, der lächelnd fast jeden Klassiker in den Rang der Erfolgsnummer katapultiert. Dudamel versprüht unendlichen Charme und glühende Musikalität, doch ist er auch realistisch für Berlin? Seit 2009 ist er immerhin Chef in Los Angeles.
Andris Nelsons (1978) stammt aus der lettischen Dirigenten-Tradition und ist gelernter Trompeter. Er hat Rattle bereits in Birmingham beerbt, und dass er ihm auch nach Berlin folgt, ist nicht unwahrscheinlich. Von diesem Sommer an ist Nelsons für fünf Jahre Chef des Boston Symphony Orchestra, das mal als bestes Orchester der Welt galt. Dort könnte er nach vier Jahren beruhigt parallel fahren: noch ein Jahr in Boston, aber am Beginn einer ganzen Dekade in Berlin. Nelsons ist mitteleuropäisch durchglüht und besitzt etwas gewinnend Jungenhaftes. Er hat glänzende Aussichten. Yannick Nézet-Séguin (1975) ist in seiner Altersgruppe möglicherweise Nelsons' ärgster Konkurrent für Berlin. Der aus Montréal stammende Frankokanadier ist seit 2012 Musikdirektor des Philadelphia Orchestra, das derzeit neben Boston problemlos konkurrieren kann. Für Nézet-Séguin wäre es in Berlin ein nahtloser Anschluss in einer Karriere, in der sich phänomenale Wirksamkeit (auch für die Galerie) mit musikalischer Intelligenz paart.
Kirill Petrenko (1972) wäre von seiner rein dirigentischen Kompetenz her fraglos ein Top-Kandidat. Er besitzt aber ein entscheidendes Manko: Der amtierende Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper liebt Oper über alles. Ob er mit einem reinen Konzertorchester, das nur gelegentlich Musiktheater gibt, glücklich auf Gegenseitigkeit würde, ist nicht zu glauben. Was die erzieherische Qualifikation anlangt, so wäre er - Münchner Spitzname: Penetrenko - für die Philharmoniker fraglos ein Gewinn. In der laufenden Spielzeit darf er in Berlin Mahlers 6. Symphonie dirigieren, zweifellos ein Chefstück.
Paavo Järvi (1962), der fulminante Este, war Chef beim hr-Orchester, strich beim Orchestre de Paris die Segel und ist derzeit nur in Japan unter Vertrag - und bei der Deutschen Kammerphilharmonie in Bremen, der er sich gründerväterlich verbunden fühlt. Järvi wäre für Berlin das Signal eines Aufbruchs auch in ein historisch informiertes Musizieren. Aber er ist sehr knorrig.
Die Berliner Philharmoniker wünschen sich in jedem Fall einen Künstler jüngeren Alters, der bereits gewaltig in die Welt strahlt. Das macht die Selektion spannend. In genau einem Jahr wird die Entscheidung vermutlich gefallen sein.
http://www.rp-online.de/kultur/die-berliner-philharmoniker-suchen-ihren-chef-aid-1.4578244
Wolfram Goertz
2018 wird Simon Rattle das großartige Orchester verlassen. Einige aussichtsreiche Kandidaten haben das Zeug, ihn zu beerben.
Im Jahr 2018 gibt der König die Krone im fremden Land zurück und begnügt sich mit einem Krönchen in der Heimat. Wenn es stimmt, dass der Brite Simon Rattle die Berliner Philharmoniker verlässt, um daheim das London Symphony Orchestra zu übernehmen, dann wäre das künstlerisch ein Abstieg, aber gewiss ein Signal aus patriotischem Herzen und gesundheitlicher Klugheit. Rattle wird dann 63 Jahre alt sein und sich im Gefühl sonnen können, in Berlin viel bewegt zu haben.
Er hat nach seinem eher introvertierten Vorgänger Claudio Abbado das Konzerterlebnis als solches in offensive Richtungen gelenkt. Vor allem hat er die Philharmoniker auf ihrem Weg in einen neuen medialen Aggregatzustand begleitet: Es ist jetzt ein Orchester im wärmenden Bett einer Stiftung, die von der Deutschen Bank getragen wird; mit einem eigenen Schallplattenlabel; mit globaler Präsenz durch Live-Streaming der Konzerte. Rattle passt perfekt in diese Ära, weil er unautoritär wirkt und tatsächlich ein Anti-Maestro ist.
Das geht bisweilen zu Lasten der musikalischen Qualität. Das merkt man bei der neuen Platte des Renommier-Orchesters: Die vier Symphonien von Robert Schumann hat Rattle soeben derart empfindungsfrei und aalglatt runtergehobelt, dass man sagen muss: Die Premiere versank fast im Bett des Rheins. Die "Rheinische" hat man lange nicht so bedeutungslos erlebt.
Tatsächlich gibt es auch in Berlin Stimmen, die an Ort und Stelle den Mangel an dirigentischer Erstklassigkeit beklagen. Simon Rattles Zeit war weitgehend frei von überdimensionalen Interpretationen, selbst wenn er in alle Richtungen viel riskierte. Rattle hat das Repertoire der Philharmoniker gespreizt, aber in diesem weiten Raum selbst keine wegweisenden Marken setzen können. Schon Sir Simons Berliner Beginn mit Gustav Mahlers Fünfter Symphonie cis-Moll war beinahe zwanghaft geraten: Da wollte einer alles in der Partitur zum Hören bringen. Das Ergebnis: Man hörte nichts mehr.
Natürlich sind die Berliner Philharmoniker schon längst auf der Suche nach einem Nachfolger. In der modernen Zeitrechnung ist 2018 beinahe übermorgen. Wer käme denn in Frage für dieses hehre Amt? Hier eine Übersicht über die derzeit immer wieder gehandelten Namen. Christian Thielemann (geboren 1959) wäre in der deutschen Hauptstadt sozusagen der deutsche Nationalkapellmeister. Käme er tatsächlich aus Dresden nach Berlin, wäre damit eine Furtwänglerisierung der Philharmoniker verbunden, eine gewiss auch programmatisch deutliche Preußenlastigkeit, die manche ersehnen, die manchen aber schon vorab suspekt ist. Derzeit leitet er die Staatskapelle Dresden. Gustavo Dudamel (1981) ist einer der Feuerköpfe aus Lateinamerika. Er hat sich aus dem venezolanischen "Sistema" hochgearbeitet zu einem seriösen Superstar, der lächelnd fast jeden Klassiker in den Rang der Erfolgsnummer katapultiert. Dudamel versprüht unendlichen Charme und glühende Musikalität, doch ist er auch realistisch für Berlin? Seit 2009 ist er immerhin Chef in Los Angeles.
Andris Nelsons (1978) stammt aus der lettischen Dirigenten-Tradition und ist gelernter Trompeter. Er hat Rattle bereits in Birmingham beerbt, und dass er ihm auch nach Berlin folgt, ist nicht unwahrscheinlich. Von diesem Sommer an ist Nelsons für fünf Jahre Chef des Boston Symphony Orchestra, das mal als bestes Orchester der Welt galt. Dort könnte er nach vier Jahren beruhigt parallel fahren: noch ein Jahr in Boston, aber am Beginn einer ganzen Dekade in Berlin. Nelsons ist mitteleuropäisch durchglüht und besitzt etwas gewinnend Jungenhaftes. Er hat glänzende Aussichten. Yannick Nézet-Séguin (1975) ist in seiner Altersgruppe möglicherweise Nelsons' ärgster Konkurrent für Berlin. Der aus Montréal stammende Frankokanadier ist seit 2012 Musikdirektor des Philadelphia Orchestra, das derzeit neben Boston problemlos konkurrieren kann. Für Nézet-Séguin wäre es in Berlin ein nahtloser Anschluss in einer Karriere, in der sich phänomenale Wirksamkeit (auch für die Galerie) mit musikalischer Intelligenz paart.
Kirill Petrenko (1972) wäre von seiner rein dirigentischen Kompetenz her fraglos ein Top-Kandidat. Er besitzt aber ein entscheidendes Manko: Der amtierende Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper liebt Oper über alles. Ob er mit einem reinen Konzertorchester, das nur gelegentlich Musiktheater gibt, glücklich auf Gegenseitigkeit würde, ist nicht zu glauben. Was die erzieherische Qualifikation anlangt, so wäre er - Münchner Spitzname: Penetrenko - für die Philharmoniker fraglos ein Gewinn. In der laufenden Spielzeit darf er in Berlin Mahlers 6. Symphonie dirigieren, zweifellos ein Chefstück.
Paavo Järvi (1962), der fulminante Este, war Chef beim hr-Orchester, strich beim Orchestre de Paris die Segel und ist derzeit nur in Japan unter Vertrag - und bei der Deutschen Kammerphilharmonie in Bremen, der er sich gründerväterlich verbunden fühlt. Järvi wäre für Berlin das Signal eines Aufbruchs auch in ein historisch informiertes Musizieren. Aber er ist sehr knorrig.
Die Berliner Philharmoniker wünschen sich in jedem Fall einen Künstler jüngeren Alters, der bereits gewaltig in die Welt strahlt. Das macht die Selektion spannend. In genau einem Jahr wird die Entscheidung vermutlich gefallen sein.
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