Paavo Järvi: „Für mich ist Sibelius ein Gigant“

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Walter Weidringer
3.03.2017


Dirigent Paavo Järvi kommt mit dem NHK Symphony Orchestra aus Tokio ins Konzerthaus. Mit der „Presse“ sprach er über Japan und die UdSSR, Sibelius und Schostakowitsch.
Am Dienstag im Wiener Konzerthaus: Paavo Järvi mit dem NHK Symphony Orchestra aus Tokio. (Archivbild) – (c) EPA (Ingo Wagner)


Die Presse: Herr Järvi, Sie haben Ihren Vertrag als Chef des NHK Symphony Orchestra verlängert und sind nun mit ihm gemeinsam auf Europatournee. Ihr Orchester ist ja bei uns nicht oft zu Gast . . .

Parvo Järvi: Käme es aus Europa oder den USA, wäre es weltbekannt. Aber wegen der geografischen und kulturellen Entfernung zwischen Japan und der westlichen Welt hat es hier nicht das Profil, das es verdient. Es kann auf eine lange Geschichte zurückblicken, mit Dirigenten wie Böhm, Karajan, Sawallisch. Mein Ziel ist es, die Europäer zu überzeugen, dass diese Musiker alles haben, um in Europa entstandene Musik auf gültige Weise zu interpretieren.



Müssen Sie da gegen Vorurteile kämpfen?

In Berlin, Zürich, New York spielen Konzertmeister aus Asien. Deren Fähigkeiten stellt niemand mehr in Frage, asiatische Orchester haben es schwerer. Ich möchte mithelfen, dieses Vorurteil sanft abzubauen.


Ihre vielen CDs ernten eine Menge Kritikerlob. Ist es Ihnen schon gelungen, ein Werk aufzunehmen, das Ihr Vater, Neeme Järvi, nicht eingespielt hat?
Haha, das müsste zumindest bei Bruckner der Fall gewesen sein. Aber es ist kein Wettbewerb für uns. Als Chefdirigent muss man danach streben, den künstlerischen Kurswert des Orchesters zu steigern. Bei der Deutschen Kammerphilharmonie ist das mit der Aufnahme der Beethoven-Symphonien gelungen. Mein Bruckner-Zyklus mit dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt und nun ein Strauss-Zyklus mit NHK sollen auch den Namen dieser Orchester weitertragen.


Sie sind in der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik aufgewachsen, bis Ihre Familie 1980 in die USA emigriert ist. Wurden Sie musikalisch von der russischen Schule geprägt?

So schlimm die Zustände auch waren, der Ostblock hatte eine musikalisch gute Seite: Alles Alte blieb bewahrt. Man lebte in einer vakuumverpackten Welt von Gestern, konnte immer noch hören, wie einst im alten Russland musiziert wurde. Das war einschränkend und faszinierend zugleich. Bis heute werden dort Originalklangensembles oder historisch informierte Aufführungspraxis nicht verstanden: Wer nicht ständig vibriert, ist verdächtig! Wie übrigens auch in den USA. Im Klang haben sich meine Ideale also stark verändert und von meiner russischen Ausbildung wegbewegt.


In Wien haben Sie das Sibelius-Violinkonzert mit Janine Jansen im Programm.

Für mich ist Sibelius ein Gigant. Es erscheint mir fast lächerlich, dass es in Mitteleuropa immer noch Einwände gegen ihn gibt, aber Adornos abfälliges Urteil von anno dazumal ist hier nach wie vor wirksam. Dass Brahms Sibelius nahegelegt hat, Viertaktphrasen zu schreiben, zeigt genau, was ihn unverständlich erscheinen ließ: Seine Musik lässt sich nicht in bestimmte Gleise zwingen. Genau das war das Bahnbrechende an ihr, das Faszinierende und Verstörende. Tschaikowsky, Wagner und Bruckner waren seine stärksten Einflüsse, aber er findet seinen eigenen Ort zwischen dem Russischen und dem Deutschen – und genau dort liegt auch Finnland.


Und Sie spielen Schostakowitschs zehnte Symphonie, eine Abrechnung mit der Stalin-Ära. Der brutale, irre zweite Satz gilt als Porträt Stalins. Ein Kollege von Ihnen hat diesen Satz einmal als Zugabe dirigiert.
Wenn man ihn als absolute Musik nimmt, ist das möglich, aber ich würde es nicht tun. Sobald man weiß, worum es geht, um den nackten Terror auf jeder nur denkbaren Ebene, wird man den Satz nicht mehr als Showpiece verstehen können. Aber manche jubeln auch nach dem dritten Satz von Tschaikowskys „Pathétique“ – einerseits verständlich, andererseits grundfalsch.


Haben Sie Schostakowitsch noch kennengelernt?

Ja, ich war ein Bub, es gibt sogar ein gemeinsames Foto. In Pärnu, einem estnischen Seebad, wo ich heute ein Festival leite, hat er einige Sommer verbracht und kam uns besuchen. Ich war zu jung, um seine Bedeutung zu verstehen, aber er war ein Gott, mein Vater hat alle seine Symphonien mit Mrawinsky studiert. Um Schostakowitsch zu verstehen, hilft es ungemein, wenn man weiß, wie das Leben in der UdSSR war, und zwar nicht nur aus Büchern. In meiner Jugend hatte sich der Griff schon gelockert, aber jede estnische Familie hat zumindest einen Onkel oder eine Großmutter, die nach Sibirien deportiert wurden. Die Hälfte unserer Bevölkerung ist dort ums Leben gebracht worden. Diesen Schrecken kennengelernt zu haben, hilft, diese Musik glaubwürdig werden zu lassen.


Wie ist die aktuelle Stimmung in Estland angesichts von Putin und Trump?

Gespannt. Estland ist Teil der EU, die wankt, und Mitglied der NATO, der die USA ihre Unterstützung kürzen wollen. Die Unsicherheit steigt.





ZUR PERSON

Paavo Järvi ist 1962 in Tallinn geboren, Sohn des Dirigenten Neeme Järvi, Bruder der Flötistin Maarika und des Dirigenten Kristjan Järvi. 1980 Emigration in die USA, dort u. a. Unterricht bei Leonard Bernstein. Spielte während des Studiums (Dirigieren und Schlagzeug) in der Progressive-Rockband In Spe. Er war u. a. Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters Frankfurt, seit 2004 ist er Künstlerischer Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, seit 2015 Chefdirigent des NHK Symphony Orchestra.

Im Wiener Konzerthaus: Di., 7. März: Sibelius, Schostakowitsch (Janine Jansen, NHK Symphony);

23./24. Mai: Mahler (Wiener Symphoniker).





("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.03.2017)
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