ZERSPLITTERTE MENSCHHEIT

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Sascha Krieger
8.11.2016

Die Staatskapelle Berlin ist in ihrem Hauptjob ein Opernorchester. Das sollte wissen, wer an ihr Pult tritt. Dem estnischen Dirigenten Paavo Järvi, der als einer der besten seiner Zunft gilt, ist das nicht entgangen. Und so fällt zu Beginn dieses Abends zunächst auf, wie muskulös das Orchester agiert, wie massig die Streicherblöcke daherkommen, wie affirmativ die Blechbläser, wie deutlich und konturenscharf die Holzbläser. Das mag in Ludwig van Beethovens drittem Klavierkonzert ein wenig irritieren, erweist sich aber als kluge Entscheidung. Das hat auch mit dem Solisten zu tun. Radu Lupu ist ein eher idiosynkratischer Pianist, der gern einmal Umwege nimmt und auch vor extremen Lesarten nicht zurückschreckt. Das zeigt er hier im langsamen zweiten Satz: Da verzögert er radikal, wählt extrem langsame Tempo, baut immer wieder Abbrüche und Bremsbewegungen, aber auch die eine oder andere harte Setzung ein. Er verweigert dem Largo den typischen Fluss, hinterfragt und zergrübelt es, reißt es reflektiert auseinander. Das Orchester dagegen liefert den lyrischen Fluss, der den Satz eigentlich auszeichnet, spielt klar und affirmativ und bietet Lupu damit den Grund für seine Wanderungen.



Das ist auch im Kopfsatz so, wo das Orchester ein festes Fundament einzieht, den klassischen Schönklang romantisch auflädt, ihn mal in die Breite zieht, dann wieder massiv verdichtet. Lupu verweigert jede Härte, wechselt zwischen klarem, perlendem Gesang und bewegter Unschärfe – eine Ambivalenz, die sich am Orchester reibt und eine ungewöhnliche Spannung erzeugt. Im Finale lässt er die Melodielinien traumwandlerisch und scheinbar mühelos dahinfließen, verliert sich zuweilen fast in der Verweigerung von Ausdrucksvielfalt. Glücklicherweise gilt das für das Orchester nicht, das sich im Spannungsfeld aus hellem, luftigem pastoralen Klang und dramatischer Verdichtung bewegt. Die Staatskapelle bemüht sich dabei um höchste Konturenschärfe, was Lupu aber gern konterkariert. Am Ende steht ein eigenwilliges „Drittes“, das sich im Zwiegespräch zwischen Orchester und Solist findet, dieses aber auch immer wieder hinterfragt. Von klaffenden Wunden zu sprechen, wäre sicher übertrieben, aber Järvi und Lupu finden so manchen Bruch, den zu kitten sie nicht ernsthaft versuchen.

Von Natur aus voller Brüche ist Dmitri Schostakowitschs siebte Symphonie, die viel gedeutete und noch mehr instrumentalisierte „Leningrader“. Hier sind die Wunden tatsächlich offen und Järvi streut reichlich Salz hinein. Fahle Töne sind die Grundfarbe seiner alles andere als versönlichen Lesart. Hat der Beginn noch ordentlich Zug, setzt bald eine Ausdünnungs- und Entfärbungsbewegung ein, die das ganze Werk durchzieht. Sehr zart die pastorale Episode, die hier fast zum Stillstand führt. Immer wieder bremst das Geschehen ab, gewinnt eine gespenstische Tonlage zunehmend die Oberhand, die sich auch in Solovioline und Piccoloflöte findet, deren Klagen die berühmte Invasionsepisode einleitet. Diese beginnt in mehrfachem Pianissimo, kaum hörbar aus dem nichts, bruchstückhaft sich zusammenfügend. Das anschwellen, die Verzerrung, der Weg zur Gewalt sind organisch entwickelt, zwingen, unentrinnbar. Järvi überbetont nicht, sondern er lässt die Gewalt und ihren Sog wachsen als gäbe es keine alternative. Die „Invasion“ ist ein Totentanz, geisterhaft, fahl, kalt, erschütternd.



Nach einem zweiten Satz, der in seiner melancholisch verzweifelten klanglichen Reduktion hier kaum mehr ist als ein Nachgedanke folgt ein Adagio, das sich noch stärker zurücknimmt. Der Klang wird weiter entfärbt und ausgedünnt, die Einzelstimmen finden sich zunehmend isoliert, zur Reduktion des Klangs gesellt sich eine Fragmentierung der Stimmen und musikalischen Elemente. Der Zusammenhalt schwindet, organisches Werden und Vergehen wird abgelöst durch unvermittelte Ein- und Ausbrüche. es wird immer dunkler, die Musik tastet sich voran, blind und verzweifelt. Im Finale dann keine Spur vom Triumph, den Stalins Propaganda in ihm sah. Stattdessen zerfällt das musikalische Geschehen immer mehr, nehmen die Kontraste in Klangbild und Dynamik immer weiter zu, entwickelt sich eine Art Episodenstruktur, in der jedes Element, jedes Thema, jeder Solopart nurmehr für sich allein steht. Das Verbindende sucht der Zuhörer vergebens. das ist Programm: Die Gewalt, die Entmenschlichung des Menschen, von denen die vorigen Sätze erzählen, haben ganze Arbeit geleistet. Was bleibt, ist Zersplitterung, Versuche, zu einem Ausdruck zu finden, der in die Leere geht, weil er auf nichts mehr verweist. Und so klingt auch der Schluss hohl. keine Spur von Strahlen, jeden entsprechenden Versuch der Blechbläser unterminieren die unerbittlichen Kreisbewegungen der Streicher. So endet das Werk mit schneidender, beinahe roher Schärfe und ohne jede Versöhnung. Da wird der Gesang der Soloflöte zur stillen Klage, die darum weiß, dass niemand sie erhört. Eine radikale, aufrüttelnde Interpretation, die dem Zuhörer nichts schenkt und keine einfachen Antworten gibt. Die Fragen, die sie stellt, sind jedoch nicht aus der Welt. Im Gegenteil.

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