Besondere Beziehung

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12.06.2018

Paavo Järvi eröffnet mit der Bremer Kammerphilharmonie den Kissinger Sommer. Wie sieht er sein Orchester, das Festival und die Welt? Und seinen Bruder?

Paavo Järvi ist seit 14 Jahren Chefdirigent der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen - und er genießt das. Foto: Gerhild Ahnert




In den letzten Tagen haben sich die Musiker der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen in ihrem Stammquartier in der Gesamtschule Bremen-Ost - die ist im Stadtteil Tenever - auf ihre vier Konzerte beim Kissinger Sommer vorbereitet. Nach der 3. Sinfonie von Johannes Brahms trafen wir Paavo Järvi, seit 14 Jahren Chefdirigent der Bremer, zu einem Gespräch.

Können Sie mir erklären, warum die Kammerphilharmonie und Sie im letzten Jahr zu den absoluten Lieblingen der Kissinger geworden sind?
Paavo Järvi: Nun, ich weiß nicht wirklich, warum das so war, aber ich hoffe, es war wegen der Musik, wegen der Aufführungen. Wir genießen es jedenfalls sehr, in Bad Kissingen zu sein. Es ist eine sehr natürliche und sehr angenehme Umgebung für das Orchester, um Musik zu machen, und die ganze Atmosphäre ist sehr entspannt und freundlich.

Zuerst ein paar Fragen zu Ihrer Biographie. Sie kennen sie, ich kenne sie. Trotzdem: Sie sind Chefdirigent hier in Bremen und in Tokio; sie werden es in der Tonhalle in Zürich sein, Sie sind Gastdirigent, Ehrendirigent und geben Konzerte in der ganzen Welt. Wo und wann leben Sie eigentlich?
Wo ich lebe? Ach. Das ist eine gute Frage. Da ich praktisch überhaupt keine Freizeit habe, bin in der Tat ständig auf Reisen. Heute Abend nach der Aufführung fahre ich schon wieder nach Dresden. Aber der offizielle Wohnsitz ist in London.

Da zahlen Sie Ihre Steuern?
Ja. Eigentlich ist mein offizieller Wohnsitz in Palm Beach, Florida. Aber bei meinem Leben ist es sehr kompliziert, weil es in so vielen Ländern stattfindet, von der Geographie her ist nicht wirklich klar, wo ich lebe.

Ihre 14 Jahre in Bremen sind die längste Zeit, die Sie mit einem Orchester zusammengearbeitet haben - hoffentlich noch lange - was war der Grund für diese 14 Jahre?
Eigentlich ist es sogar länger, offiziell sind es etwa 14 Jahre, aber wirklich besteht die Beziehung schon fast 20 Jahre: Mein erstes Konzert mit ihnen war vor mehr als 20 Jahren, und seitdem war ich beinahe jedes Jahr hier, so dass die Beziehung lang, sogar länger als 14 Jahre anhält.

Was macht dieses Orchester so interessant für Sie?
Sie sind besonders. Es gibt kein anderes Orchester, das der Kammerphilharmonie gleicht.

Und was ist das Besondere?
Alles. Ihre Organisationsstruktur, die Art und Weise, wie sie spielen, die Weise, wie sie sich selbst verwalten. Die Struktur des Orchesters ist einzigartig: Sie entscheiden über sich selbst, sie spielen Projekte, sie legen fest, was für sie künstlerisch wichtig ist. Es ist ein Orchester, das seine eigenen Regeln geschaffen hat. Nicht wie die meisten anderen Orchester, die beinahe alle nach einem standardisierten System arbeiten. Hier sind sie sehr offen, und sie entscheiden, was sie machen wollen.

Ist die Kammerphilharmonie ein Orchester, das leicht zu handhaben ist?
Ich glaube, dass der Umgang mit allen Orchestern schwierig ist, weil sie voller starker Persönlichkeiten und Leuten mit einer Menge Information, Wissen, Intelligenz und Auffassungsvermögen sind. Eine solche Gruppe von Menschen zu leiten ist immer eine ziemliche Herausforderung, aber sie widmen sich mit großer Hingabe ihrer Organisation und dem Ergebnis ihrer Arbeit und dem Endergebnis auf der Bühne. Und genau dies ist das Ziel für uns alle.

In Bad Kissingen spielen Sie ein ziemlich romantisches Programm. Ist das ein Zufall?
Wir spielen eine ganze Reihe von Repertoires. Das Orchester ist sehr berühmt für sein klassisches Repertoire, für seine Kenntnis der historischen Aufführungspraktiken. Aber wir spielen auch das moderne und das romantische Repertoire, Brahms und Schumann. Meiner Meinung nach muss ein Orchester vielseitig sein, eine große Bandbreite haben. Es sollte nicht auf irgendetwas spezialisiert sein. Diesmal ist es halt zufällig die Romantik.

Mich interessiert Ihre Ansicht zu dem Wechsel von Janine Jansen zu Christian Tetzlaff.
Janine musste ja absagen, weil sie gesundheitliche Probleme hat. Aber Christian Tetzlaff ist eine Art Familienmitglied der Kammerphilharmonie. Wir spielen schon so lange mit ihm und seiner Schwester zusammen. Sie sind praktisch Mitglieder des Orchesters.

Ich bin nicht traurig, da ich beide mag.
Ich auch. Sie sind sehr unterschiedlich.

Wissen Sie eigentlich, dass Ihr Bruder Kristjan am Tag nach Ihrem "Lobgesang" in Bad Kissingen sein Baltic Sea Orchestra dirigiert?
Oh, das wusste ich nicht. Das ist toll, vielleicht kann ich ihn ja sogar dort treffen. Wir sind ja da, ich hoffe, dass das klappt.

Was für eine Art Dirigent ist er?
Er ist ein sehr interessanter Dirigent, weil er eine völlig andere Richtung verfolgt. Er spielt sehr viel Neue Musik, sehr viel Crossover hin zur populären Musik, und er komponiert auch selbst. Er ist auf völlig andere Dinge spezialisiert als ich. Er ist ein sehr kreativer und interessanter Dirigent.
Die Kammerphilharmonie ist für fünf Jahre Orchestra in Residence in Bad Kissingen, was ich für eine tolle Idee halte. Was meinen Sie dazu?
Es ist eine großartige Idee, weil wir einen angenehmen Ort haben, um dort im Sommer interessante Programme zu gestalten und kann zu einer Tradition werden. Ich denke, es ist eine sehr gute Idee.

Was bedeutet das Festival "Kissinger Sommer" für Sie?
Ich war schon viele Jahre bei diesem Festival. Mit dem Orchestre de Paris, davor mit den Bambergern und einigen anderen Orchestern, ich glaube sogar mit den Frankfurtern. Ich liebe schon immer den Ort und das Festival und besonders den Konzertsaal im Regentenbau. Es ist ein sehr schöner Saal mit einem sehr guten Klang. Es ist ein ganz besonderer Ort. Es macht uns immer viel Spaß, dort Aufnahmen und CDs mit der Kammerphilharmonie für Sony mit den Beethovenkonzerten zu machen.

Wenn Sie den Saal mit der Bremer "Glocke" vergleichen: Was ist besser, was ist schlechter?
Es sind zwei sehr unterschiedliche Spielstätten. Die "Glocke" ist ein Konzertsaal, der Littmann-Saal im Regentenbau ist eine Art Sommer-Konzertsaal. Ich denke, beide Säle sind gut, der Klang in der "Glocke" ist ein wenig trockener, der Saal in Bad Kissingen ist wärmer, hat einen runderen Klang, was ich lieber mag.

Haben Sie schon etwas vom Zentrum von Bad Kissingen gesehen?
Ja, wir gehen jedes Mal herum, das Zentrum kenne ich sehr gut, habe aber keine Ahnung von der Umgebung.

Könnten Sie sich vorstellen, dort einmal Urlaub zu machen.
Ganz sicher. Es ist ein angenehmer, ruhiger Ort. Warum nicht? Aber ich habe halt keinen Urlaub.

Es sind 100 Jahre vergangen seit der ersten Unabhängigkeit der baltischen Staaten. Was bedeutet das für Sie?
Es ist ein sehr wichtiger Moment in unserer Geschichte, weil die baltischen Staaten und speziell Estland wegen der geografischen Lage und der Größe immer besetzt waren von anderen Staaten: Schweden, Dänen, Deutschen und bis vor kurzem Russen. Für uns dauerte das Streben nach Unabhängigkeit eine sehr lange Zeit, und wir haben es jetzt endlich zu dem Punkt geschafft, wo wir haben, was wir wollen. Jetzt ist natürlich die große Frage, ob wir schaffen, das aufrechtzuerhalten, die Unabhängigkeit zu behalten. Denn die Welt ist in einer so unsicheren Verfassung im Moment, dass uns nichts mehr überrascht. Alles könnte passieren, und wenn man die politische Situation in der Welt anschaut, würde uns das gar nicht so befremdlich vorkommen. Alle Erwartungen und Regeln werden neu geschrieben. Was passieren wird, wohin sich die neue Politik bewegen wird, wird abzuwarten sein. Aber jeder Este hat immer im Hinterkopf, dass man die Unabhängigkeit auch leicht verlieren kann. Es gibt ein leichtes Gefühl des Zitterns, ein Gefühl der Vorsicht.

Mir gefällt die Vorstellung, dass der estnische Nationalismus ein musikalischer Nationalismus ist: die "Singende Revolution".
Das Singen ist ein wichtiger Teil der Kultur und wird sehr ernst genommen. Jede Organisation hat ihren Chor: Feuerwehr, Polizeistation, Behörden und andere mehr.

In Deutschland sterben zurzeit die Amateurchöre.
Das ist schlimm, denn die beste Art, um Musik am Leben zu halten, ist durch Amateurchöre, Gesangsvereine.

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