Die wahren Patrioten sitzen im Orchestergraben

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Clemens Haustein
15.08.2018

Beim Musikfestival in Pärnu führt Paavo Järvi
das Estonian Festival Orchestra zu europäischer Exzellenz


PÄRNU, 14. August In den Gärten von Pärnu, hinter bunt be- malten Holzzäunen, tragen die Bäume schwer an der Last der Sommeräpfel. In dichten Trauben hängen sie an den Äs- ten, üppiges Laub gibt ihnen Schatten, den man auch hier in Estland in diesem Sommer gern aufsucht. Braungebrannt sind die Menschen, die abends in die Konzerte des Musikfestivals gehen, nach einem Tag an der Ostsee (die hier Westsee heißt), und auch programmatisch-künstlerisch hängen die Bäume mittlerweile voll. Im achten Jahr hat das Pärnu Musikfestival, gegründet vom Dirigenten Paavo Järvi gemeinsam mit sei- nem ebenfalls dirigierenden Vater Nee- me, eine neue Stufe erreicht. Im Januar bereits war das Estonian Festival Orchestra, das von Paavo Järvi betreute Herz- stück des Festivals, erstmals auf Tour durch Europa. Offizieller Anlass war der hundertste Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung der Esten im Februar 1918. Gleichzeitig erschien die erste CD. Erstmals geht das Orchester in diesem Jahr auch direkt nach dem Sommer- festival auf Tour. Ein Auftritt bei den Proms in London folgte, an diesem Mittwoch spielt das Orchester schon in der Hamburger Elbphilharmonie. Im kommenden April wird das Ensemble in Ja- pan gastieren. Ein beschaulicher Bade- ort macht Weltkarriere.
Die verstärkte Außentätigkeit erzeugt auch ein Paradoxon. Denn größer soll das Festival eigentlich nicht werden. Kann es auch kaum, denn der feine Konzertsaal, der hier auf Initiative von Vater Järvi 2002 gebaut wurde, hat nur tau- send Sitzplätze. Und steht ein großes Orchesterwerk auf dem Programm, ist die Bühne dicht besetzt; kommt die Musik dazu (der es unter Paavo Järvis Leitung nie an Kraft mangelt), kann es im Raum eng werden. Warum also geht das Orchester auf Tournee? „Damit es besser wird“, lautet Järvis erste Antwort. „Weil es ein Botschafter Estlands ist“, heißt seine zweite Antwort. Die Reihenfolge mag verwundern, verdeutlicht aber, dass Järvi am Urlaubsort seiner Kind- heit, an dem er als Zehnjähriger einst den ebenfalls urlaubenden Dmitri Schostakowitsch traf, künstlerisch ehrgeizige Ziele verfolgt.
Die Musiker, die Järvi von jenen Or- chestern mitbringt, die er gegenwärtig leitet (etwa die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen) oder die er früher ge- leitet hat (das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks und das Orchestre de Paris), sollen sich mit Musikern aus Estland zu einem Ensemble verbinden, in dem der kernige, auf den ganz persönlichen Input jedes Einzelnen setzende Järvi-Stil ideal verwirklicht wird. An ei- ner Hierarchie nach Qualität rüttelt der Dirigent dabei nicht. An den ersten Pul- ten sitzen die Musiker aus den großen Orchestern: Philippe Aïche etwa als Konzertmeister vom Orchestre de Paris, der fabelhafte Matthew Hunt von der Kammerphilharmonie an der Solo-Klarinette, José Luis García Vegara als Solo-Oboist vom Hessischen Rundfunk-orchester. Die estnischen Musiker ordnen sich dahinter ein.

Dabei entsteht ein Klangkörper von beeindruckenden Möglichkeiten. Die kammermusikalische Duftigkeit und Be- weglichkeit, mit der im ersten Konzert Maurice Ravels „La Valse“ gespielt wird, ist verführerisch. Die Entschiedenheit, mit der Järvi und seine Musiker das Kla- vierkonzert von Edvard Grieg als hoch- dramatisches Stück vorstellen, nimmt ge- fangen. Elisabeth Leonskaja als Solistin ist eine energische Partnerin, die eben- falls weniger das Poetische sucht in Griegs Musik als den herzhaften und herzlichen Ausdruck. Und wenn kurz vor Ende des Stückes plötzlich eine Volksmelodie auftaucht, einsam in der Flöte wie eine Erinnerung, und diese we- nig später – so endet das Werk – trium- phal mit dem ganzen Orchester wieder- holt wird, so erscheint das hier als pa- triotischer Ausdruck, der wiederum auf den Themenschwerpunkt des diesjähri- gen Festivals verweist: das Jubiläum der estnischen Unabhängigkeit.

Jüri Reinvere, der in Tallinn gebore- ne, mittlerweile in Frankfurt lebende Komponist, fasste in seinem Stück „Und müde vom Glück, fingen sie an zu tan- zen“, uraufgeführt als Auftragswerk des Festivals, den Rahmen allerdings deut- lich weiter. Es geht um Zivilisations- müdigkeit und einen Tanz in den Unter- gang, dargestellt in einem fulminanten Werk: glänzend instrumentiert, fesselnd erzählt, heftig und engagiert in seinem Appell, wenn schließlich vier Trommler im brutalen Marsch vollenden, was sich im übermürben Ton der Streicher ankün- digt und im Drohen der tiefen Hörner. Das Orchester spielt das Werk mit spür- barer Begeisterung, im Verbund mit Ra- vels Endzeitwalzer „La Valse“ ergibt sich eine beklemmende Aussage bei ei- nem Festival, das sich sonst von allem Politischen fernhält. Sehr selbstverständ- lich gehören auch Musiker aus Russ- land, dem seit jeher beargwöhnten Nach- barn der Esten, zum Orchester-Kosmos von Pärnu. Gleichwohl spielt die estni- sche Musik hier eine hervorgehobene Rolle. Neben Reinvere und Arvo Pärt wurden auch Werke von Eduard Tubin, Rudolf Tobias, Heino Eller und Erkki- Sven Tüür gespielt. Kombiniert werden sie in Pärnu gern mit Komponisten aus anderen Ostsee-Ländern. So stand im episch langen Abschlusskonzert Witold Lutoslawskis „Konzert für Orchester“ auf dem Programm, vom Festivalorches- ter mit rhythmischer Macht dargeboten, und Jean Sibelius’ fünfte Symphonie in einer etwas ungenauen Fassung. Das ge- meinsame Feiern, das in Pärnu gleichbe- rechtigt neben dem gemeinsamen Pro- ben steht, forderte hier, am Ende der Woche, wohl seinen Tribut.

Und Midori spielte Sibelius’ Violin- konzert: streng eingefasst in Ton und Gestus, als ein Selbstgespräch, zu dem auch die Selbstzerfleischung gehört. Die großen Solisten kommen mittler- weile gern in den Badeort, wo das Rau- schen der Linden und Birken zusammengeht mit dem Rauschen der Bran- dung.


Temperamentsausbruch an der Westsee: Elisabeth Leonskaja in Pärnu Foto Kaupo Kikkas

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