Paavo Järvi in der Tonhalle: Ja, ist das überhaupt noch dasselbe Orchester?

nzz.ch
Christian Wildhagen
17.01.2019

Offiziell beginnt er erst im Herbst, doch der designierte Chefdirigent der Tonhalle lässt sich dieser Tage bereits zum dritten Mal in Zürich blicken. Und wieder spielen seine künftigen Musiker wie ausgewechselt. Wie macht Järvi das nur?



Noch Brautwerbung? Oder schon Flitterwochen? Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester, hier bei ihrem zweiten Auftritt im Oktober 2018, haben offenbar bereits einen Draht zueinander gefunden. (Bild: Priska Ketterer / TOZ)

Zum Reiz einer Übergangszeit gehört die innere Freiheit, die sich in diesem Zustand unvermutet auftut. Thomas Mann hat ihn einmal treffend mit dem schwebend-unbelasteten Selbstgefühl eines Schulversagers verglichen, der bereits weiss, dass es mit der Versetzung im laufenden Jahr wohl nichts mehr werden wird. Nun, sitzengeblieben ist das Tonhalle-Orchester Zürich zwar nicht; aber es darf zurzeit tatsächlich eine Phase durchleben, in der das künstlerisch wenig befriedigende Gestern bereits endgültig vergangen, das Morgen hingegen gerade erst im Werden ist.

Man möchte kaum glauben, dass diese delikate Schwebe derart stark auf ein vielstimmiges Kollektiv wirken kann; doch genau so war es beim jüngsten Konzert in der Tonhalle Maag. Darin gab Paavo Järvi, der designierte Chefdirigent des Orchesters, seinen künftigen Musikern die Ehre – zum nun schon dritten Mal seit seiner Berufung im Mai 2017; ein viertes Mal wird vor dem offiziellen Antritt zum Herbst im April 2019 folgen. Und das Orchester geniesst offenkundig jeden dieser Anlässe in einer Weise, wie man es bei einem Spitzenensemble selten so erfrischend erlebt.

Der «Zukünftige»


Noch nämlich ist alles Spiel. Noch lernt man einander kennen. Noch hat der Ernst der regulären Zusammenarbeit nicht begonnen. Stattdessen gibt man einander unverhohlen zu verstehen, wie sehr man sich gegenseitig schätzt. Ist das immer noch die Brautwerbungsphase? Oder sind wir bereits in den Flitterwochen? Einerlei. Die Musikerinnen und Musiker präsentieren sich gegenüber Järvi so offen, so begeistert, so engagiert, dass man sich verdutzt die Augen (und mehr noch die Ohren) reibt: Was ist dort in dem halben Jahr seit dem Ende der Ära von Lionel Bringuier geschehen? Ja, ist das überhaupt noch dasselbe Orchester?

Wer die Tonhalle-Musiker nicht zu den Hoch-Zeiten David Zinmans, sondern in der Endphase unter Bringuier erlebte, hörte einen Klangkörper, der sich kaum mehr auf interpretatorische Impulse, geschweige denn Abenteuer einliess und seinem internationalen Ruf merklich hinterherspielte. Das galt für Konzerte unter dem glücklosen, weil gestalterisch schlicht zu unerfahrenen Chef, aber ebenso bei weniger inspirierenden Gastdirigenten. Für Orchester in aller Welt ist solche gezielte Zurückhaltung ein psychologisch verständliches, wiewohl nicht sonderlich professionelles Mittel, Unzufriedenheit mit der künstlerischen Leitung zum Ausdruck zu bringen. Hört man das Tonhalle-Orchester jetzt dagegen unter Järvi, muss man sagen: Die frühere Verweigerung grenzte an Obstruktion.

Denn plötzlich ist alles wieder da: die Farben, die Transparenz, die Virtuosität an einzelnen Pulten, die Wärme und Emotion bei gleichzeitiger Brillanz des Klanges – mit einem Wort: die Musik. Und mit ihr die erkennbare Lust am gemeinsamen Gestalten. Schier überwältigend kam dies bei Beethovens 1. Sinfonie am Schluss des Programms zur Geltung. So exakt, so auf den Punkt konzentriert und dabei dennoch innerlich gelöst haben die Tonhalle-Musiker seit Jahren nicht gespielt. Da war es, als fände die kollektive Erinnerung an den wegweisenden Beethoven-Zyklus unter Zinman glücklich zusammen mit den höchst profilierten Forderungen, die der «Zukünftige» an das Orchester stellt.

Paavo Järvi zählt seinerseits nicht zufällig zu den markantesten Beethoven-Dirigenten der Gegenwart. Sein preisgekrönter Sinfonienzyklus mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen (deren Chefdirigent Järvi seit 2004 ist und parallel zu Zürich bleiben wird) setzt stimmig die Bestrebungen von Pionieren wie Harnoncourt und Zinman fort, Erkenntnisse der Originalklang-Bewegung auf die Aufführungspraxis traditioneller Sinfonieorchester zu übertragen. Dementsprechend geht es bei Beethovens Erster mächtig zur Sache.

Gemeinsames CD-Projekt

Die Tempi sind durchweg «con moto» und «con brio», gewohnte Wohlfühloasen fehlen, Blech und Pauken dröhnen und tröten drauflos, als marschierte man vom Maag-Areal direkt aufs Schlachtfeld. Das klingt frech, aufrührerisch, stellenweise fast überspitzt; aber man ahnt plötzlich wieder, was für ein Schock der ungekämmte junge Beethoven für die Musik seiner Zeit gewesen sein muss. Das darf, weiss Gott, nicht jede Interpretation für sich in Anspruch nehmen.

Dass Järvi auch ganz anders kann – auratisch, klangsinnlich, jenseitig –, hatte er zuvor in den zwei frühen Orchesterwerken «Les offrandes oubliées» und «Le tombeau resplendissant» von Olivier Messiaen unter Beweis gestellt, die mit weiteren Messiaen-Stücken aus den Aprilkonzerten auf einer ersten CD verewigt werden sollen. Wirkte der Zugriff hier anfangs noch etwas tastend und überkontrolliert, so erlebte man in Mozarts A-Dur-Konzert KV 219 mit der souveränen Janine Jansen ein hingebungsvolles Musizieren, bei dem die Funken von der Solovioline zu den Tutti-Pulten und zurück zu fliegen schienen. Kein Wunder: Jeder Orchestergeiger kennt dieses klassische Probespielstück in- und auswendig. Das führt diesmal jedoch nicht zu Verdruss oder Routine, vielmehr zu Dialog und echtem Miteinander. So darf es weitergehen.

https://www.nzz.ch/feuilleton/paavo-jaervi-in-der-tonhalle-ist-das-noch-dasselbe-orchester-ld.1452238

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