Frischer Blick auf Sibelius

deutschlandfunk.de
Marcus Stäbler
03.02.2019

Melancholisch, dunkel und rau – so werden die Sinfonien des finnischen Komponisten Jean Sibelius oft charakterisiert. Dabei gibt es in seiner Musik noch ganz andere Facetten zu entdecken. Paavo Järvi und das Orchestre de Paris zeigen sie uns in ihrer neuen Gesamteinspielung der Sibelius-Sinfonien.


Paavo Järvi war bis 2016 Chefdirigent beim Orchestre de Paris (picture-alliance / dpa / Ingo Wagner)


Musik: Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 6, 1. Satz

Der Beginn der sechsten Sinfonie von Jean Sibelius. Sphärische Streicherklänge, wie eine Himmelsvision, vom Orchestre de Paris unter Leitung von Paavo Järvi schwebend gespielt. Keine Spur von der Düsternis, die man der Musik von Sibelius ja gern als Dauerzustand unterstellt. Es gehört zu den Vorteilen einer Gesamtaufnahme, dass sie ein differenziertes Gesamtbild ermöglicht. Paavo Järvi nutzt diese Gelegenheit, um mit dem Orchestre de Paris seine ganz eigene Sicht auf das sinfonische Schaffen von Jean Sibelius zu vermitteln. Sie weicht von vielen gängigen Klischees in Bezug auf den Komponisten ab und offenbart eine Frische, wie man sie in anderen Interpretationen vermisst. Zum Vergleich kurz ein Ausschnitt aus der vielgelobten Aufnahme mit John Barbirolli und dem Hallé Orchestra aus den 60er Jahren. Der Beginn der zweiten Sinfonie klang damals ziemlich dunkel und schwer.

Musik: Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 2, 1. Satz

Bei Paavo Järvi hat diese Passage einen ganz anderen Aggregatzustand. Sie wirkt flüssiger und lebendiger, weil Järvi nicht nur ein rascheres Grundtempo anschlägt, sondern dieses Tempo auch immer wieder ein kleines bisschen anzieht, um im nächsten Moment nachzugeben. Die Musik steht nie auf der Stelle, sie atmet und pulsiert organisch.

Musik: Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 2, 1. Satz
Glühende Intensität und fernab aller Routine

Paavo Järvi und das Orchestre de Paris mit dem Beginn der zweiten Sinfonie von Jean Sibelius. Das Schaffen des finnischen Komponisten gehört in Frankreich noch weniger als in Deutschland zum Kernrepertoire. Die neue Konzertaufnahme ist die erste Gesamteinspielung mit einem französischen Orchester überhaupt. Als Järvi die sieben Sinfonien zwischen 2012 und 2016 einstudiert und aufgeführt hat, während seiner Zeit als Chefdirigent beim Orchestre de Paris, konnte er also nicht an eine lange Sibelius-Tradition anknüpfen. Aber das war kein Nachteil, wie er selbst im Beiheft der Aufnahme betont. Dadurch, dass die Musiker hier Neuland betreten, ist die Begegnung mit den Sinfonien für sie eine aufregende Entdeckungsreise. Sie folgen ihrem Dirigenten hochkonzentriert und fernab aller Routine. In den frühen Sinfonien entfachen Järvi und sein Orchester mitunter eine glühende Intensität.

Musik: Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 2, 4. Satz

Die Musik wird im Finale der zweiten Sinfonie von einer drängenden Unruhe voran getrieben, wie man sie bei Sibelius gar nicht vermuten würde. Aber das sagt mehr über unsere Vorurteile als über den Komponisten und sein Schaffen selbst aus. Gerade in Deutschland wurde Jean Sibelius ja entweder gerne als Galionsfigur einer vermeintlich nordischen Reinheit und Naturkunst vereinnahmt oder als rückständiger Dilettant verspottet. Paavo Järvi steht über solchen ideologischen Hahnenkämpfen. Er hat schon bei seinem professionellen Debüt als Dirigent im Jahr 1985 eine Sinfonie von Sibelius aufgeführt und seither eine besonders enge Beziehung zu dessen Werken entwickelt. Diese Nähe ist der Konzertaufnahme mit dem Orchestre de Paris anzumerken. Sie wirkt tatsächlich wie eine Herzensangelegenheit. Durch die Hingabe, mit der Järvi den emotionalen Botschaften nachspürt, aber auch durch eine liebevolle Sorgfalt für die Nuancen. Hinreißend etwa, wie sanft der Dirigent und sein Orchester die Melodie im langsamen Satz aus der ersten Sinfonie schwingen lassen. Die Streicher scheinen ihre Saiten mit den Bogenhaaren zu streicheln, sie formen einen nicht bloß leisen, sondern zärtlichen Klang und finden noch innerhalb des Piano und Pianissimo viele Farbschattierungen.

Musik: Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 1, 2. Satz
Die Nummer eins unter den französischen Orchestern

Die Stimmen der Fagotte schmiegen sich geschmeidig aneinander, aus ihrem kurzen Duett keimt die Linie der Klarinette hervor. Einer von vielen Belegen für die Sensibilität der Aufnahme und für das exzellente Niveau des Orchesters. Das Orchestre de Paris gilt nicht umsonst als die Nummer eins in Frankreich und demonstriert seine Qualität auch in der Konzerteinspielung der Sibelius-Sinfonien. Paavo Järvi formt mit dem Orchester oft einen weicheren, weniger rauen Klangals man ihn gewohnt ist. Sein Sibelius kommt mitunter überraschend leichtfüßig daher. Hören wir als Kontrast noch einmal kurz die ältere Barbirolli-Aufnahme aus den 60er Jahren, diesmal mit einem Beispiel aus der dritten Sinfonie.

Musik: Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 3, 1. Satz

Das Sechzentelmotiv der tiefen Streicher ist hier eher gemütlich, um nicht zu sagen tapsig artikuliert. Bei Järvi verströmt die Passage tänzerische Eleganz, ein Hauch von Haydn'schem Humor weht durch die Musik.

Musik: Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 3, 1. Satz

Paavo Järvi und das Orchestre de Paris mit der dritten Sinfonie von Sibelius, die als seine „klassische“ gilt. Wie schon in seinen Brahms-Aufnahmen mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen entschlackt der Dirigent den Orchesterklang auch bei Sibelius und macht ihn dadurch wendiger. Trotzdem bleibt er muskulös, wo es dem Geist der Musik entspricht. Gerade die Pauke entfacht in der Einspielung eine ganz eigene Kraft, wenn Järvi die Energie bündelt und in knackigen Höhepunkten entlädt.

Musik: Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 3, 1. Satz

Ein Weichzeichner ist Järvi nicht, die Wucht der Sinfonien tritt klar zu Tage. Aber er meidet die etwas teigige Trägheit, die man mitunter von anderen Sibelius-Interpreten hört und deshalb dem Komponisten selbst anlastet. Auch in der vierten Sinfonie, seinem vielleicht bedeutendsten Werk. In dieser Vierten aus den Jahren 1909-1911 schlägt Sibelius tatsächlich einen schwermütigen Ton an und gräbt sich oft in die dunklen Klangschichten des Orchesters hinein. Der düstere Charakter wird oft mit der biografischen Situation des Komponisten erklärt. 1908 wurde ihm ein bösartiger Tumor aus dem Hals entfernt, wie seine Überlebenschancen danach aussahen, war lange Zeit unklar. Gut möglich, dass ihm die Angst vor dem Tod auch ein Jahr später noch auf der Seele lag und in der vierten Sinfonie ihre Spuren hinterlassen hat. Aber die Musik entfacht auch ohne das Wissen um diesen Hintergrund einen starken Sog. Die ganz eigentümliche Polyphonie des Stücks erwächst aus einem Kernintervall, dem Tritonus, den Sibelius gleich in den ersten Takten einführt. Auch hier, in der dunklen Welt der Vierten, wahrt Paavo Järvi einen transparenten Orchesterklang.

Musik: Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 4, 1. Satz
Sibelius mit wachem Geist neu entdeckt

Die vierte Sinfonie von Sibelius, mit dem Orchestre de Paris unter Leitung von Paavo Järvi. Der Dirigent modelliert die Strukturen mit kammermusikalischer Sorgfalt. Aber er verbindet diese Disziplin im Klang und im Zusammenspiel immer mit der Suche nach dem Ausdrucksgehalt der Musik. Dabei erkundet er die vergrübelten Momente und die Seelenschwärze der Vierten ebenso empathisch wie den Überschwang oder das Schwelgen in anderen Werken. Auch die romantische Schwärmerei hat sich Sibelius ja bisweilen gegönnt. Besonders schön in der Fünften, seiner wohl bekanntesten Sinfonie. Im Finale schwingt sich das Stück zu hymnischer Größe auf, mit einem Thema, das nach Auskunft von Sibelius selbst vom Anblick eines Schwarms aus 16 Schwänen am Himmel inspiriert ist. Hier scheint die Musik auf breiten Flügeln abzuheben.

Musik: Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 5, 3. Satz

Selbst das viel gespielte und von der Popmusik adaptierte Thema aus dem Finale der fünften Sinfonie von Sibelius klingt wie neu entdeckt. Auch, weil der Effekt des des col legno in den Kontrabässen, die an manchen Stellen vom Komponisten angewiesen sind, die Saite mit dem Holz des Bogens anzuschlagen, so deutlich zu hören ist wie selten. Dieser wache Geist und die Frische prägen alle Konzertaufnahmen der Gesamteinspielung. Sie ist teils in der neuen Pariser Philharmonie und teils in der Salle Pleyel entstanden und bildet den Facettenreichtum von Järvis Interpretationen sehr fein und mit einem natürlichen Klang ab. Auch in der Siebten aus dem Jahr 1924, mit der Jean Sibelius sein sinfonisches Schaffen nach einem Vierteljahrhundert abschloss.

Musik: Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 7

Das Ende der siebten Sinfonie von Jean Sibelius, gespielt vom Orchestre de Paris unter der Leitung von Paavo Järvi. Die Konzertaufnahmen aus den Jahren 2012-2016 sind auf drei CDs beim Label RCA Red Seal erschienen.

Jean Sibelius
Sinfonien 1-7
Orchestre de Paris
Leitung: Paavo Järvi
Label: RCA Red Seal
Bestellnr.: 19075924512


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