Zürich, Tonhalle: MARTINŮ, BRAHMS

Oper aktuell 

Kaspar Sannemann

03.11.2021


Kritik:


Angeblich soll Bohuslav Martinů sein Konzert für zwei Klaviere und Orchester innerhalb von einenhalb Monaten fertiggestellt haben, den ersten Satz gar innert vier Tagen. Das lässt einen bass erstaunt wenn man das Konzert live hört: Wie kann ein Mensch es nur rein technisch schaffen, in dieser kurzen Zeit überhaupt so viele Noten für zwei Klaviere und die farbenreiche Orchestrierung zu notieren? Aber Bohuslav Martinů hat es geschafft und das rasante Werk begeistert in dieser Aufführung so sehr, dass man es gleich nochmals hören möchte. Wie zwei Gepardinnen rasen die Schwestern Katia und Marielle Labèque durch die Sechzehntelläufe dieses Kopfsatzes. Die Musik hat etwas mechanisch Pflügendes, wie ein stark motorisiertes Boot, das sich in wilder See durchsetzt. Das Tonhalle-Orchester Zürich unter Paavo Järvi steuert jazzige Rhythmen und tschechisches Kolorit bei, die Musik entwickelt sich aus kleinsten Zellen, stets vorwärtstreibend und mitreissend, in den Ecksätzen ruhelos, und ansteckende Lebensfreude evozierend. Zu mehr Expressivität fand Bohuslav Martinů im Adagio-Mittelsatz. Eine Introduktion wird mit perlenden Tönen und kräftigen Akkorden von den Labèque-Schwestern interpretiert, im weiteren Satzverlauf brillieren die beiden Pianistinnen mit herrlich glitzernden Passagen, verfeinern diese und wunderbar einschmeichelnden Arpeggien und virtuosen Akkordfolgen. Das bestens disponierte Tonhalle-Orchester Zürich steuert farbenreiche Miniaturen der Holzbläser bei und lässt den Satz in den Violinen samtweich verklingen, bevor es sich zusammen mit den beiden Pianistinnen in den atemlosen Schlusssatz stürzt. Paavo Järvi scheint die jazzig angehauchten Passagen echt zu geniessen und führt das Konzert zum effektvollen Schluss. Als Zugabe spielten Katia und Marielle Labèque (sie sind übrigens keine Zwillinge, obwohl das Erscheinungsbild - Frisur und Kleidung - an diesem Abend den Verdacht aufkommen liess) aus der Komposition für Klavier zu vier Händen MA MÈRE L' OYE von Maurice Ravel Le jardin féerique. Das war eine gut gewählte Zugabe, denn sie holte mit dem von den beiden Schwestern so sublim und verträumt gespielten Duktus und den effektvollen Glissandi die Zuhörer*innen wieder etwas vom aufregenden, fiebrig-rasanten Schluss des Martinů Konzerts runter und führte sie in eine sanfte Traumwelt.


War der Applaus des Publikums nach Martinůs Konzert noch warm und freundlich gewesen, so steigerte er sich nach der Brahms Sinfonie zum gewaltigen Jubel. Es ist ja meistens so, dass man dem Altvertrauten mehr Begeisterung entgegenbringt als dem neu zu Entdeckenden. Paavo Järvi kennt diese erste Brahms Sinfonie natürlich bestens, nach eigenen Angaben hat er sie schon 50-bis 60 mal dirigiert. Man spürt, dass er die Architektur von Brahms' Erster genau verinnerlicht hat. Sehr plastisch arbeitet er die Momente von Spannung - Entspannung, hell - dunkel, zornig - ruhig heraus, das Tonhalle-Orchester folgt seinem Chef mit herausragender Agilität. Dabei wird nicht verdeckt, wie schmerzhaft Brahms mit der Grossform seiner ersten Sinfonie gerungen hat. Aufwühlendes Grummeln und Grollen im ersten Satz, der mit markanten Paukenschlägen einsetzt wird im zweiten durch liedhafte Strophen mit bezaubernden solistischen Leistungen der Oboe (Simon Fuchs), der Klarinette (Michael Reid) und dem Violinsolo des Konzertmeisters (Andreas Janke) abgelöst. Sehr klar wird im ebenfalls liedhaft gehaltenen dritten Satz das klopfende Motiv des zweiten Themas herausgearbeitet. Auf das Strahlen des Trios in diesem Allegretto folgt quasi mit attaca subito der gigantische Schlusssatz. Präzise Pizzicati der Streicher, das prägnant ausgekostete "Alphorn"- Motiv, welches von der Flöte so bezaubernd übernommen wird, oder der von den Posaunen eingeleitete Choral werden gebührend zelebriert, bevor die die Anläufe zur Kulmination einsetzen.


Es ist kein Brahms zum Zurücklehen, den Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester hier präsentieren, sondern ein aufwühlender, durchaus steiniger und zerklüfteter Weg zum strahlenden C-Dur Gipfel der Coda.


Dieser spannend programmierte Konzertabend begeisterte mit zwei ganz unterschiedlichen Werken: Das erste (von Martinů) in einem wiedererwachten Schaffensrausch - nach der Depression der Flucht in die USA - in atemberaubenden Tempo entstanden (und durch Labèque-Schwestern fulminant in der Tonhalle zum Klingen gebracht), das zweite Werk hingegen war ein 16 Jahre währendes Ringen um die Sinfonieform nach Beethoven, ein Ringen, das Brahms zu Recht einen Platz im Komponistenhimmel (nicht nur im Deckengemälde der Tonhalle Zürich) gesichert hat.


Werke:


Obwohl Bohuslav Martinů (1890 - 1959) im Alter von 33 Jahren der Tschechoslowakei den Rücken kehrte und fortan in Frankreich und nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in den USA und ab 1956 in Pratteln (Schweiz) bei Paul Sacher lebte, sind seine tschechischen Wurzeln in seiner Musik stets präsent. Grossen Einfluss übten in Paris die Werke der Groupe des Six (Auric, Durey, Honegger, Milhaud, Poulenc, Tailleferre) auf ihn aus, sowie der Klassizismus von Stravinsky. In seinem ganz eigenen Stil, der durch eine erweiterte Tonalität, kräftige Dissonanzen, komplexe Rhythmik und immer wieder durch Einflüsse der tschechischen Volksmusik seiner Heimat geprägt ist, schuf Bohuslav Martinů viele sinfonische Werke, Kammer- und Vokalmusik und einige Opern (JULIETTE und THE GREEK PASSION waren auch am Opernhaus Zürich in den letzten Jahren zu erleben). Nach seiner Flucht in die USA - wegen des Einmarsches der Nazis in Frankreich - litt er zuerst an einer Schreibblockade. Nachdem jedoch Serge Koussevitzky mit dem Boston Symphony Orchestera Bohuslav Martinůs CONCERTO GROSSO erfolgreich uraufgeführt hatte, kehrte seine Schaffenskraft zurück. Innerhalb der nächsten vier Jahre komponierte er fünf seiner insgesamt 6 Sinfonien und auch das Konzert für zwei Klaviere und Orchester. Über dieses schrieb Frank Rybka, ein amerikanischer Freund des Komponisten, Bohuslav Martinů benutze die beiden Klaviere wie sich duellierende Kampfflugzeuge um im Finale einen Wirbelwind der Aufregung zu erzeugen. Bohuslav Martinů hat sich dazu nur dahingehend geäussert, dass er besser Musik schreiben könne als darüber zu schreiben. Wie auch immer, entstanden ist ein hochvirtuoses, in den Ecksätzen rasantes Konzert.


Johannes Brahms (1833-1897) hatte bereits 67 Werke veröffentlicht, als er seine erste Sinfonie endlich der Öffentlichkeit vorstellte. Da er ein äusserst selbstkritischer und ehrgeiziger Schaffer war, vernichtete er selbst viele seiner Entwürfe und Werke. So dauerte der Entstehungsprozess der ersten Sinfonie wahrscheinlich an die 16 Jahre. Dazu kam, dass das Geltungswesen der absoluten Musik und ihrer vermeintlichen formalen Enge durch Komponisten wie Liszt und Wagner zunehmend hinterfragt wurde. Die erste Sinfonie wirkt in Brahms' Opus wie eine Art Kirchenportal, die zweite fungiert als liebliches Andantino, die dritte als heiteres Scherzo und die vierte bildet das wuchtige Finale.


Clara Schumann, welcher Brahms immer wieder Entwürfe seiner Kompositionen zuschickte, war vom ersten Satz der ersten Sinfonie „betrübt und niedergeschlagen“ von dessen Schmerzlichkeit. Und tatsächlich, der Satz hat etwas Düsteres – aber in aller Melancholie auch Glanzvolles – an sich. Nach ruhigem Beginn entdeckt man im zweiten Satz etwas störend Bohrendes, oft hinter lieblichen Melodien der Holzbläser versteckt. Mehr Heiterkeit kommt im dritten Satz auf und den vierten hat Brahms selbst mit den Worten „Hoch auf'm Berge, tief im Tal, grüss' ich dich viel tausendmal“ an Clara Schumann gesandt. Es ist ein Satz voller Erhabenheit und Frische, Moll wendet sich zu Dur, Düsternis zu Jubel. Dieses Finale weist unverschleierte Parallelen zu Beethovens neunter Sinfonie auf.




https://www.oper-aktuell.info/kritiken/artikel/zuerich-tonhalle-martinu-brahms-03112021.html?fbclid=IwAR1SSwtVd9AH205tFPuLElHUBSV9ozOoGi83hCw0uKjNHiD-U9W0NS_aJYw

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