Die Zürcher erobern mit Paavo Järvi die Elbphilharmonie
Die Zürcher erobern mit Paavo Järvi die Elbphilharmonie: «Wir sind dabei, ein echtes Bruckner-Orchester zu werden»
Das Tonhalle-Orchester und sein Musikdirektor Paavo Järvi präsentieren sich erstmals bei einem mehrtägigen Gastspiel in Hamburgs aufsehenerregendem Konzerthaus. Dessen besondere Akustik rückt die Qualitäten des Ensembles in ein neues Licht.
Die Elbphilharmonie in Hamburg ist ein Sehnsuchtsort, auch für auffallend viele Musikfreunde aus der Schweiz. Sie stellen seit 2017, seit der Eröffnung des spektakulären Konzerthauses der Basler Architekten Herzog und de Meuron, beständig die drittgrösste Besuchergruppe, nach Deutschen und Österreichern. Das ist angesichts der Entfernung überraschend, doch nicht einmal die kulturellen Auszeiten während der Corona-Pandemie haben die Anziehungskraft schwächen können. Offenkundig hat die ursprüngliche Idee des Bauwerks gezündet: Die «Elphi», wie das hoch über dem Hafen aufragende neue Wahrzeichen im Volksmund heisst, ist zu dem erhofften Leuchtturm geworden, der Menschen aus aller Welt nach Hamburg lockt.
Dem Ruf folgen seit Beginn nicht nur Kulturinteressierte und Touristen, die zuvor vielleicht Berlin oder München den Vorzug gegeben hätten, sondern auch die führenden Orchester der Welt. Denn neben den architektonischen Reizen des Baus haben sich auch die akustischen Qualitäten seiner beiden Konzertsäle herumgesprochen. Dies hat dem Kulturleben Hamburgs einen beispiellosen Aufschwung und internationalen Glanz beschert, der wiederum auf die hier auftretenden Ensembles zurückstrahlt. Am Wochenende wollte nun auch das Tonhalle-Orchester Zürich in diesem besonderen Rampenlicht glänzen und während eines mehrtägigen Gastspiels beweisen, dass es im Konzert der Besten mitspielen kann. Das ist eindrucksvoll gelungen.
Paavo Järvi hat ein Leitmotiv
Es war für die Zürcher bereits der zweite Anlauf zu einer Residenz an der Elbe, nachdem eine frühere Planung 2021 der Pandemie zum Opfer gefallen war. Eine solche Konzertserie ist nicht nur logistisch, sondern auch künstlerisch eine Herausforderung, bietet sie einem Orchester doch die Chance, einen fremden Saal wirklich zu erobern, sich also insbesondere an die klanglichen Gegebenheiten vor Ort zu adaptieren. Im Fall der Elbphilharmonie ist das keine einfache Aufgabe – ihre kristalline, analytisch klare Akustik stellt nämlich einen modernen Gegenentwurf zu dem romantisch-geschlossenen Klangbild dar, das exemplarisch im Wiener Musikverein und in der historischen Tonhalle verwirklicht ist.
Zürichs Musikdirektor Paavo Järvi hatte denn auch vorab in einem Podcast-Beitrag die Sensibilisierung für den Klang als ein Leitmotiv des Hamburg-Gastspiels ausgegeben. Derart auf die spezifischen Erfordernisse eines Raums reagieren zu können, sieht Järvi als Qualitätsmerkmal der Tradtionsorchester in Europa an, während viele amerikanische Orchester bei Tourneen eher darauf setzten, ihr zu Hause einstudiertes Klangideal eins zu eins zu reproduzieren (auch mangels Probenzeit vor Ort). Um eine Form der Reproduktion ging es allerdings auch beim Tonhalle-Orchester.
Die Zürcher brachten drei Werke aus ihrem gerade entstehenden Bruckner-Zyklus mit in den Norden: Die 8., die 6. und die 3. Sinfonie Anton Bruckners waren seit Mitte September bereits in der heimischen Tonhalle erklungen, jeweils an mehreren Konzertabenden hintereinander, ausserdem bei Aufnahmesitzungen für eine geplante Gesamteinspielung. In Hamburg musste das in Zürich Erreichte nun in einem faszinierenden Prozess der Transformation den teilweise ganz anderen Verhältnissen in der Elbphilharmonie angepasst werden.
Aus den Reihen des Orchesters ist während dieser Tage immer wieder zu hören, dass man das eigene Musizieren wie auch das der Kollegen hier viel plastischer wahrnehme als in der Tonhalle. Tatsächlich profitiert das Zusammenspiel davon zusehends: Blieb die Aufführung der 6. Sinfonie am ersten Abend noch eine Art «amerikanische» Kopie der Zürcher Aufführung von Ende Oktober – technisch brillant, aber akustisch eher kompakt als den Raum kreativ ausschöpfend –, so geschieht im zweiten Konzert mit der Achten ein kleines Wunder: Der Klang fächert sich unerhört breit und farbenreich auf, er verliert alles Harte und damit auch jene übertriebene Dominanz der Blechbläser, die noch im September das akustische Fassungsvermögen der Tonhalle überfordert hatte.
Einen solchen Sprung in der Interpretation erlebt man bei Orchestern dieses Niveaus nicht alle Tage. Doch auch bei der 3. Sinfonie im letzten Konzert reagieren die Musiker subtil auf den Saal, sie schwingen sich buchstäblich auf ihn ein. Die Interaktion zwischen den Instrumentengruppen und das respektvolle Aufeinanderhören lassen den Gesamtklang weicher werden, transparenter und zugleich lebendiger. Wie zuvor in der exemplarisch gelungenen Achten entwickelt sich überdies eine Intensität des Musizierens, die das Publikum im ausverkauften Saal fast das Atmen, auf jeden Fall alles Husten vergessen lässt. Eine sagenhafte Konzentration, sowohl auf der Bühne wie in den Sitzreihen, die hier anders als in Zürich das Podium komplett umschliessen.
Kulturaustausch mit Zürich
Am dritten Abend lockt das Gastspiel sogar den Ersten Bürgermeister der Hansestadt in die noble Konzert-Manege. Peter Tschentscher berichtet in einem Grusswort von Gesprächen mit den Stadtoberhäuptern von Wien und Zürich, in denen es um einen Ausbau des wirtschaftlichen, aber eben auch des kulturellen Austauschs gegangen sei. Das Tonhalle-Orchester durfte sich da als Vorreiter fühlen und in seinem Selbstverständnis als Kulturbotschafter bestätigt sehen. Tatsächlich soll die Zürcher Residenz an der Elbe schon bald eine Fortsetzung finden.
Ilona Schmiel, die Intendantin der Tonhalle, sieht in dieser Art, sich jeweils über längere Zeiträume an einem Ort zu präsentieren, die Zukunft für den Tourneebetrieb. Sie sei in Zeiten des Klimawandels nicht nur ökologisch besser vertretbar – zumal wenn die Musiker per Flugzeug anreisen, wie in diesem Fall. Vor allem ermögliche eine mehrtägige Präsenz auch eine viel breitere Wahrnehmung, als es das sonst übliche Rein und Raus eines einzelnen Gastkonzerts je könnte. Die mitgereiste Crew der Tonhalle fördert die Aufmerksamkeit obendrein mit Angeboten auf der orchestereigenen Website, etwa mit einem unterhaltsamen Blog aus der Hinterbühnenperspektive. Solche mediale Aufbereitung gehört für viele Ensembles heute zum guten Ton – nicht zuletzt, um das Publikum daheim ein wenig am auswärtigen Erfolg teilhaben zu lassen.
Für Paavo Järvi sind die Hamburger Konzerte eine Mischung aus Bewährungsprobe und Heimspiel. Man kennt ihn hier gut: nach über dreissig Auftritten, allerdings mit seinen anderen Ensembles, namentlich der im nahen Bremen beheimateten Deutschen Kammerphilharmonie. Die Tonhalle ist dagegen erst das dritte Mal in der «Elphi» zu Gast, erntet aber an allen Abenden ungewöhnlich lang anhaltenden Applaus. Järvi schätzt besonders die musikalische Gruppendynamik, die sich während dieser Tage entwickelt habe. Zurück in Zürich, bringt er es mit dem für ihn typischen Understatement auf den Punkt: «Wir sind dabei, ein echtes Bruckner-Orchester zu werden.» Übersetzt heisst das wohl: Wie immer gibt es Luft nach oben, aber wir sind auf einem guten Weg.
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